Wer sich im Jahr 2019 beruflich mit Gestaltung und Design beschäftigt, kommt an Empfehlungen und Strategien zu Usability und User Experience kaum vorbei. Inzwischen macht es dabei keinen Unterschied mehr, ob sich die Gestaltung auf haptische oder interaktive Produkte bzw. bestimmte Elemente im Webdesign bezieht. Überall dort, wo ein Mensch auf ein Produkt oder eine Anwendung trifft, stehen Usability und User Experience im Vordergrund.

Bereits zu Beginn der 2000er Jahre entwickelte Donald A. Norman, heutiger Director des The Design Lab an der University of California, einen neuen Denkansatz zum Design von Produkten. In diesem Denkmodell, was er 2003 in seinem Buch „Emotional Design. Why we love (or hate) everyday things“ erstmals veröffentlichte, spielt insbesondere die persönliche Wahrnehmung von Design eine übergeordnete Rolle.

Emotional Design: Die drei Ebenen der Wahrnehmung

Schon 1988 hatte sich Norman in seinem Buch „The Design of everyday things“ mit der kognitiven Wahrnehmung von Produkten beschäftigt. Mit seinem Emotional Design Modell statuierte er 25 Jahre später einen wissenschaftlichen Denkansatz, bei dem der kognitiven Wahrnehmungsebene bei der Akzeptanz vom Design von Produkten besondere Bedeutung zukommt. Für Designer ist es mehr denn je lohnenswert, sich vor der Gestaltung eines Produktes auch mit diesem Denkmodell aus dem Bereich Designmanagement auseinanderzusetzen.

Ebene 1: Visceral Design

Als viszeral wird die Wahrnehmungsebene der inneren Organe bezeichnet, wie beispielsweise das Empfinden von Hunger oder Kälte. In der Psychologie nutzt man den Begriff, um ein recht irrationales Empfinden gegenüber alltäglichen Dingen zu definieren. Umgangssprachlich wird dieser Zustand auch „Bauchgefühl“ genannt. Norman überträgt den Begriff direkt auf die erste Ebene seines Emotional Design Modells und bezeichnet diese erste und instinktive Wahrnehmung eines Produkts, Gegenstands oder auch einer Umgebung als Visceral Design.

Die Entscheidung, ob ein Produkt als attraktiv und persönlich sinnvoll erachtet wird, erfolgt binnen Sekunden. Ein Beispiel für solch eine kollektive Bauchentscheidung findet man in der Historie von Citroën. Als der Automobilhersteller im Jahr 1955 seinen DS 19 dem Publikum vorstellte, gingen noch am selben Tag 12.000 Vorbestellungen ein. Und das, obwohl keiner der Besteller das Auto je Probe gefahren hatte. Eine Sensation in der damaligen Zeit und gutes Beispiel dafür, wie sehr die äußere Erscheinung eine Kaufentscheidung beeinflussen kann.

Ebene 2: Behavioral Design

Als zweite Ebene im Emotional Design Modell bezeichnet Norman das Behavioral Design. Diese Ebene meint das habituelle, also in gewissem Maße die Erfahrungswerte eines Betrachters. Aus diesen Erfahrungen hat sich eine persönliche Konditionierung ergeben, bei der das Gehirn aus bisherigen Erlebnissen bestimmte Attribute annimmt. Obwohl ein Produkt also noch nicht genutzt sein muss, sorgen bestimmte Reize dafür, dass der Betrachter es als gelungen, sinnvoll, anziehend und attraktiv oder eben unnütz, nicht schön oder gar abstoßend empfindet.

Auf dieser Ebene befindet sich das Gehirn sozusagen auf Autopilot. Obwohl das Produkt selbst unbekannt sein kann, sorgen bekannte Attribute dafür, keine weitere Reflexion einzuleiten. Die Bewertung erfolgt ad hoc aufgrund von Erfahrungswerten und ist verhaltensbezogen. Interessant ist auf dieser Ebene, dass Entscheidungen in Bezug auf Usability und Funktionalität getroffen werden, die lediglich auf Erfahrungswerten beruhen. Ein neues Produkt einer bekannten und persönlich akzeptierten Marke hat dank dieser Wahrnehmungsebene stets gute Chancen, sofort akzeptiert zu werden.

Norman unterteilt diese automatisierten Prüfkriterien des Gehirns in vier Bereiche, die automatisiert und unbemerkt ablaufen. Das Gehirn entscheidet dementsprechend in Sekundenschnelle, ob das Produkt seinen Zweck erfüllt, verständlich ist, den eigenen Anforderungen genügt und ein angenehmes Gefühl bei der Nutzung hervorruft. Letzteres bezieht sich insbesondere auf physische Produkte und ihre Haptik.

Auf dieser zweiten Ebene der Wahrnehmung kann die automatisierte Bewertung von Produkten durchbrochen werden, indem ein gewisses Detail als Störfaktor fungiert. Wenn ein Produkt durch eine Besonderheit von anderen unterscheidbar wird, muss das Gehirn seinen Autopiloten ausschalten und eine neue Bewertung einleiten.

Ebene 3: Reflective Design

Erst auf der dritten und höchsten Ebene der Wahrnehmungstheorie erfolgt das bewusste Nachdenken. Im Emotional Design Modell wird diese aktive Reflexion als reflektive Ebene bezeichnet. Laut Norman setzt sich die Bewertung von Produkten auf dieser Ebene aus dem eigenen Selbstverständnis, der persönlichen Zufriedenheit und Erinnerungen zusammen. Die oberste Wahrnehmungsebene fungiert als Kontrollinstanz des Gehirns.

Das Reflective Design beinhaltet auch eine kulturelle Komponente. Seit einiger Zeit ist beispielsweise das globale Problem des Plastikmülls ein viel diskutiertes Thema. Umweltbewusste Konsumenten werden deshalb aufgrund ihrem Selbstverständnis und auch ihrer selbst empfundenen sozio-ökonomischen Position und eigenen Werten eher Produkte bevorzugen, bei denen die Plastik-Problematik zum Beispiel bei der Umsetzung der Verpackung berücksichtigt wird.

Emotional Design und seine Bedeutung in der Produktentwicklung

Bereits mit dieser kurzen Erklärung über die drei Wahrnehmungsebenen aus dem Emotional Design Modell wird deutlich, wie wichtig die Kenntnis über die Zielgruppe heute bei Gestaltung und Design ist. Damit ein Produkt langfristig akzeptiert und damit auch gekauft wird, sollten Planung und Konzept bereits den Rezipienten miteinbeziehen. Dies gilt für haptische Produkte ebenso wie für digitale. Nutzerfreundlichkeit und Funktionalität sind weiterhin entscheidende Faktoren für die Akzeptanz von Produkten. Die Gestaltung selbst erreicht die Zielgruppe allerdings auf der ersten Ebene des Visceral Designs, wo weder die Funktion noch die Benutzerfreundlichkeit reflektiert werden.

So kann es also vorkommen, dass ein besonders innovatives Produkt mit bester Usability ein Ladenhüter wird bzw. ungenutzt bleibt, weil es schlichtweg als nicht attraktiv wahrgenommen wird. Und umgekehrt kann ein neues Produkt einer bekannten Marke schon kurz nach dem Release zum Verkaufsschlager werden, obwohl es nicht ausgereift und möglicherweise mangelhaft ist. Diesbezüglich wird auch die Bedeutung von Branding und Markenimage sehr deutlich: Bekannte und akzeptierte Marken haben es generell leichter, neue Produkte zu etablieren als unbekannte.

Fazit

In unserer digitalen Welt ist nahezu jedes Produkt stetig, überall und zeitnah verfügbar. Durch dieses Überangebot ist es für Designer und Gestalter sinnvoll, auch die subjektiven Wahrnehmungsprozesse ihrer Zielgruppe zu berücksichtigen. Denn Usability und User Experience werden erst bei der Nutzung eines Produktes reflektiert. Die Entscheidung, das Produkt überhaupt zu nutzen bzw. zu kaufen erfolgt einen Schritt früher auf der viszeralen Ebene. Produkte, die begeistern, überraschen und neugierig machen, heben sich deshalb vom Angebot der Mitbewerber ab, selbst wenn sie möglicherweise denselben Nutzen erfüllen.

Das Emotional Design Modell kann als Verbindung zwischen der Zielgruppe und der Entwicklung von Produkten dienen. Es gilt als Denkmodell, was den Nutzer und seine Erwartungen indirekt am Designprozess beteiligt. Das Emotional Design Modell geht über die Anforderungen zur Usability und User Experience hinaus. Es stellt Produkt-, Verpackungs-, Industrie-, Web- und Screendesigner ebenso wie Gestalter von Möbeln oder jedweden Gebrauchsgegenständen vor die Herausforderung, den Benutzerkontext auch in Bezug auf positive Emotionen stets in den Vordergrund zu stellen.

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