In unserem letzten Teil der Interviewserie „Inside the Monotype Studio“ sprachen wir mit Jürgen Siebert, Marketing Director bei Monotype über Typo Design Trends 2020 und diese Stil-Chamäleons.

Was seit Johannes Gutenberg jahrhundertelang in Blei gegossen und mühsam, als einzelne spiegelverkehrte Lettern ‚gesetzt‘ werden musste, hat mit fortschreitender Digitalisierung alles Stoffliche abgelegt. Nicht nur einzelne Letter, ganze Schriftfamilien lassen sich inzwischen nach Herzenslust dehnen und stauchen, und bleiben dabei dennoch weitgehend typografisch authentisch, ästhetisch ansprechend und gut lesbar. Als ‚variable‘ Fonts sind diese ‚Shapeshifters‘ in der digitalen Welt genau so zuhause wie im Print. Dank ihrer unstofflichen Natur gelangen sie in die entlegensten Winkel der Erde, um Textinhalte von immer mehr digitalen Produktionen – auch in nicht westlichen Schriftkulturen – Gestalt zu verleihen.

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Porträtfoto: © Jürgen Siebert, Foto: Norman Posselt

Stiltrends: Stile und Typo-Moden entwickeln sich zunehmend auch technologiegetrieben, richtig?

In der Tat, aber das war schon immer so. Als etwa Mitte der 1980er Jahre plötzlich Pixel-Schriften en vogue waren, lag das am ersten Font-Editor für den Macintosh, mit dem Zuzana Licko ganz wunderbare Schriften baute, die andere inspirierten. Die kaputten Techno-Schriften der 1990er Jahre entstanden mit den Grafikfiltern der Programme FreeHand und Adobe Illustrator. Und bald schon werden uns die Variable Fonts neue typografische Moden bescheren.

Wahrhafte Stilchamäleons sind hochvariable parametrische ‚Shapeshifter‘-Fonts. Wie werden bei diesen Multitalenten eigentlich die Lizenzen berechnet? Es sind ja im Grunde endlos viele Schriften in einer.

Das ist richtig, eine Variable Font-Datei leistet heute Dinge, für die man früher 100 oder mehr Fonts benötigte. Wir sind hier mitten in einem Prozess, in dem wir den Wert von variablen Schriften für den Kunden eruieren. Diesen gilt es mit dem Arbeitsaufwand auszubalancieren, der auf Entwicklungsseite entsteht.

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Screenshot Jason: © Jason Pamental

Warum spukt mir nur immer dieser Begriff ,Superfonts‘ im Hirn herum? Ist das ,Fontfiction‘ oder schon längst Realität? Welche Rolle könnte KI spielen? Sind sie schon auf der Bühne, oder warten sie noch hinterm Vorhang?

Tatsächlich wird der Begriff „Superfonts“ in den USA häufig verwendet. Dort bezeichnet er das, was wir hier „Schriftsippen“ nennen. Das sind Fonts, die in verschiedenen Stilklassen zu Hause sind, zum Beispiel Sans und Serif (FF Scala), oder Sans, Serif und Slab (Corporate ASE).

Noch weiß niemand, wie sich KI auf Schrift und Typografie auswirken könnte. Die gute Nachricht ist, dass Variable Fonts offen und intelligent genug sind, um auf KI zu reagieren. Genauso wie auf Sensoren, die wir in der Tasche oder am Handgelenk tragen: Helligkeit, Bewegung, Ort, Herzfrequenz, Temperatur und so weiter. Ein Beispiel: künftig könnte mir ein Puls von 170 in einer anderen Typografie übermittelt werden als mein Ruhepuls – und bei Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit könnte das nochmal anders aussehen. Die technischen Voraussetzungen dafür sind gelöst.

Mary Catherine Pflug aus Boston hat wieder die Trends der Schriftenwelt mit einer umfangreichen jährlichen Umfrage unter 18.000 Befragten in 119 Ländern sondiert.

MyFonts wurde laut Catherine Pflugs 2018 Suvey in den letzten 6 Monaten von 77% der Anwender genutzt. Auf Platz 2 rangiert mit 43% Google Fonts.

Die Zahl der durchschnittlich genutzten Font-Quellen hat sich gegenüber 2017 von 5 auf 4 verringert. 57% der Fonts werden im Grafik Design eingesetzt.

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Folie Mary Pflug: © Monotype, Marie Catherine Pflug

Welche Erkenntnisse lesen Sie aus der Untersuchung?

Die wichtigste Erkenntnis für mich ist, dass sich mehr Menschen als je zuvor für Schrift interessieren, was sicherlich auch der Popularität von Google Fonts zu verdanken ist. Die Font-Industrie alleine hätte den Wert ihrer Produkte nicht in jeden Winkel der Erde transportieren können. Allerdings sagt die Umfrage auch, dass Google Fonts bei professionellen Designern und für Unternehmen nur eine marginale Rolle spielen.

Was die Popularität von Schriften mit Sicherheit nochmal beflügelt hat, ist die Anwendung im Bereich Mobile. Hier erkennt einfach Jedermann sehr schnell den Wert einer guten Schrift im Hinblick auf deren Lesbarkeit.

Obwohl die Nutzung von Inhalten im Web seit Jahren steigt, gibt es hier immer noch Bereiche, die in typografischer Hinsicht stiefmütterlich behandelt werden. Ein Großteil der visuellen Kommunikation findet leider noch immer nicht in der Qualität statt, die man vom Gedruckten her kennt – interessanterweise sind das häufig sogar die Webseiten von Zeitungen und Zeitschriften. Wenn gedruckte Auflagen Jahr für Jahr sinken, sollte man doch endlich mehr Fokus auf die Inhalte im Netz legen und dort überraschende und qualitätsvolle Dinge mit den journalistischen Texten veranstalten, um gerade die jungen Leser zu erreichen!

Die digitale Bilderflut hat unfassbare Dimensionen erreicht. Man könnte vermuten, dass die Zahl der Rezipienten die visuelle Botschaften bevorzugen zunimmt, und die Anzahl der Lesenden bzw. an konkludenten Texten Interessierten auch in entwickelten Ländern tendenziell eher abnimmt. (Pisa-Studie, Dyslexie)

Sehen Sie langfristig Effekte auf die Art und Weise, wie Texte inszeniert werden von und damit auch auf das Geschäft mit digitalen Schriften?

Das Lesen wird nicht verschwinden, im Gegenteil: Durch die steigende Anzahl an Screens in allen Lebensbereichen wird die Bedeutung bzw. die Anwendung von Schrift sogar noch zunehmen – im Alltag und auch in der Kommunikation von Unternehmen und Marken. Manche Zeitgenossen sagen voraus, dass uns Alexa, Siri und Cortana irgendwann das Lesen abnehmen werden. Ehrlich gesagt glaube ich daran nicht. Die Dienste sind hier und da hilfreich, aber nur in wenigen Bereichen und Situationen konkurrenzlos. Die Zeit zum Lesen mag Luxus sein, doch in ganz vielen Bereichen ist Schrift gerade im digitalen Zeitalter absolut unverzichtbar.

Olapic: Welche Rolle spielt vor diesem Hintergrund die Monotype Marke Olapic? Was ist Olapic in a Nutshell? Wie fügt sich Olapic in das Monotype-Ökosystem?

Olapic unterstützt Marken bei der Kuratierung markenbezogener, nutzergenerierter Inhalte aus Social Media. Mit Zustimmung der Verbraucher werden diese Inhalte dann zum Teil des jeweiligen Marketing-Mixes. Verbraucher wollen authentische Markenerlebnisse und Olapic hilft, dies zu erreichen, indem es die Bilder der Verbraucher in den Mittelpunkt stellt. Denn Visuals sind genauso wie Schriften ein entscheidender Baustein für Marken: Beides sind Assets, die Marken einen einzigartigen Ausdruck verleihen.

Weltweit steigt das Risiko von Kollisionen ähnlicher ästhetischer Erscheinungsbilder. Man sollte annehmen, dass damit auch der Zwang zur Unterscheidbarkeit angetrieben wird und auch die Diversifikation von Schriftbildern treibt.

Entsteht so nicht auch eine unglaubliche Menge an technisch/ästhetisch unbefriedigendem ,Ausschuss‘, der trotzdem auf den Markt gelangt?

Ganz und gar nicht. Verbraucher wollen sich auf andere Weise als früher mit Marken verbunden fühlen. Eine der Hauptmotivationen, heute Markenprodukte zu erwerben, ist Vertrauen. Dieses gibt es in vielen Formen, aber meistens in dem Wissen, dass die Marke eine gesellschaftliche Wirkung hat oder von Peer-Netzwerken unterstützt wird. Hier setzt Olapic an und unterstützt Marken dabei, den Standpunkt der Verbraucher zu entdecken, zu teilen und ihn damit zu verstärken.

Andererseits verlangen internationale, aktuell insbesondere asiatische Märkte typografische Emulationen von westlichen Schriften. Da müssen zum Beispiel Schriften mit völlig verschiedenen Entstehungsgeschichten und semantischen Konzepten zum Nutzen von Markenauftritten Verwandtschaft zeigen. Welche technisch-ästhetischen oder sogar kulturellen Herausforderungen stellen sich da dem Schriftdesign?

Eine globalisierte Welt verlangt nach globalem Denken. Wir lösen das mit Diversität, in dem wir multilinguale Projekte mit muttersprachlichen Schriftentwerfern und aus unseren Büros auf der ganzen Welt heraus managen. Damit unterstützen wir unsere global agierenden Kunden am besten und liefern Produkte aus, die nahtlos funktionieren.

Emotion ist im Typo Design (wieder) Trumpf: (Richtig?)
Irre ich mich, oder beobachte ich einen etwas ,japanischen‘ Trend zur knuffig gerundeten ,Cuteness‘ im aktuellen Schriftdesign? 

Tatsächlich gibt es aktuell keinen Megatrend wie beispielsweise in den 1990er Jahren der Trend zur humanistischen Sans. Im Bereich der Headline-Schriften gibt es immer wieder mal Überraschungen und auch kulturelle Einflüsse, wie die von Ihnen beobachtete ,Knuffigkeit‘. Generell gilt: Wer einen Mini- oder Makro-Trend bricht statt ihm zu folgen, genießt höhere Aufmerksamkeit.

Sehen Sie in der genre- und systemübergreifenden Crossover-Nutzung von Typografie Auswirkungen auf Ausbildung und Studium? (Wie gut) Muss ein Designer programmieren können?

Web-Design- und Typografie-Kurse finden aktuell in parallelen Welten statt. Kaum ein Professor oder Tutor unterrichtet beides integriert. Typografie und Web-Design werden von den Studierenden meist in aufeinanderfolgenden Semestern und in beliebiger Reihenfolge absolviert.

Doch mit dem Web und vor allem den mobilen Geräten hat sich die Welt weitergedreht. Typografie heißt nicht mehr, statische Inhalte in eine feste Form zu bringen. Digitale Kanäle erwarten von uns, dass wir Typografie mittels Parameter praktizieren und die Trennung von Inhalt und Form anerkennen. Code gehört für mich heute zu den essenziellen Design-Tools, so wie Farbe, Form, Schrift, Maße und Raster. Die Ausbildung geht hier für meinen Geschmack noch viel zu sehr am Bedarf der Industrie vorbei – das muss sich dringend ändern!

Monotype hat Ende des Jahres den Type Champions Award ins Leben gerufen

  1. Was hat Monotype beim Casting der Jury geleitet? „Ein Gremium aus weltweit angesehenen Marken-Experten …“

Bei der Wahl der Jury lag der Fokus auf kommunikative Brückenbauer, also auf Designern, die einen guten Draht zum Business haben und den Wert des Designs glaubhaft und verständlich vermitteln können. Das sind typischerweise Corporate-Design-Agenturen und -Berater. Ziel unseres Wettbewerbs ist ja auch ganz klar die Auftraggeber zu belohnen, die gutes Design schätzen.

  1. In der Jury sind in ihren ästhetischen Auffassungen ziemliche „Anarchisten“ (relativ zum inzwischen recht flotten Mainstream) vertreten z.B. Wade & Leta. Wir sehen aktuell u.a. auch Extravaganz, explodierende Formen und Farben und reichlich durchgeknallte visuelle Botschaften. Können Sie ein gelungenes Beispiel benennen, wo Typografie in einem solchen visuellen Overkill ihre Rolle als verbale Vermittlerin in besonders gelungener Weise inszeniert wurde?

Da fällt mir ein kleines Event aus der Provinz ein, das Ende November in Münster stattfand, die Future of Reading Konferenz. Der Name alleine ist schon vielversprechend. Besonders eingeprägt bei mir hat sich der visuelle Auftritt der Veranstaltung: Das dreizeilige Logo „pumpt“ in der Horizontalen von links nach rechts, und der aus dem Bleisatz bekannte Zwiebelfisch feiert fröhliche Urstände. Wunderbar gemacht!

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Screenshot Logo: © Future of Reading

  1. Sehen wir in der Typografie und ihren Anwendungen eine Renaissance der Emotionalität?

Emotionalität war immer da, aber vielleicht nicht so präsent. Das eben von mir zitierte Beispiel aus Münster macht mir Hoffnung, denn es wurde immerhin für eine Veranstaltung entworfen, die sich mit der Zukunft des Lesens auseinander setzt.

Herzlichen Dank Herr Siebert.
Das Interview führte unser Redakteur Dipl. Des. Wolfgang Linneweber

DESIGNBOTE Serie: „Inside the Monotype Studio“

Jan Hendrik Weber, Type-Designer
Alexander Roth, Schriftdesigner
Akira Kobayashi, Schriftdesigner
Marianna Paszowska, Font Engineer
Charles Nix, Type Director
Tom Rickner, Leiter von Monotype Studio Design
Emilios Theofanous, Schriftdesigner
Tom Foley, UK Type Director
Malou Verlomme, Monotype London

Bilder: Monotype