Leon Billerbeck erhält für seine Abschlussarbeit im Studiengang Medienkunst der Bauhaus-Universität Weimar eine der sieben begehrten Auszeichnungen im Nachwuchswettbewerb »gute aussichten – junge deutsche fotografie«. In seiner Installation setzt sich der Künstler mit der seltenen neurologischen Erkrankung seines Vaters auseinander.

Betritt man Leon Billerbecks raumgreifende Multi-Media-Installation ATAXIA/ATARAXIA, taucht man unmittelbar ein in ein komplexes Universum, das sich aus verschiedenen visuellen und auditiven Elementen zusammensetzt. Raumgreifende „fotografische Reliefs“, wie Billerbeck seine lose gebundenen Gebilde bedruckten Papiers bezeichnet, hängen an den Ausstellungswänden. Ihre Fragilität erweckt den Anschein, als würden sich nach und nach einzelne Blätter lösen und zu Boden sinken. Die Fotografien inspirieren dazu, ihre Oberfläche zu berühren, die Papierstärke zu prüfen. Man möchte sie anheben, sachte an ihnen ziehen, vielleicht um den Auflösungsprozess etwas zu beschleunigen oder sie schützend fester in ihre Halterung zu schieben, um ihren Zerfall zu verzögern.

leon billerbeck

Einzelne Papiere zeigen bis zur Abstraktion vergrößerte fotografische Details und bis zur Unkenntlichkeit verkleinerte Ausschnitte, durchwoben von Textfragmenten. An einer Stelle fließen Fotografien in meterlangen Lagen von der Decke in den Ausstellungsraum hinein und ergießen sich an anderer Stelle wellenartig über den Boden. Eine Klangkomposition ist zu hören und Videoarbeiten sind zu sehen.

Trotz der klaren Gesamtpräsentation kann sich der Blick in der Fülle visueller Eindrücke verlieren. Nord, Süd, Ost, West, oben, unten, vorne, hinten – es scheint, als trete der innere Kompass und das Zeitempfinden außer Kraft. Doch allmählich lassen sich einzelne Schichten dieses dicht verwobenen Bild- und Motivgefüges abtragen und Details werden erkennbar. Leon Billerbeck nimmt uns mit auf eine audiovisuelle Reise in unbekannte Gefilde, die Assoziationen zu computergenerierten, collageartigen Insellandschaften wecken oder auch konkrete Landschaftsausschnitte zeigen, die mal schroff und karg und mal einladend und überbordend anmuten. Lässt man den Blick schweifen, erkennt man Fragmente menschlicher Gliedmaßen, gefaltete Hände, ein Gesicht, Haut und Haare.

Indem wir uns durch das vor uns ausgebreitete Diorama bewegen, das Spiel mit Formen und Medien auf uns wirken lassen, nähern wir uns Blick für Blick den zugrundeliegenden Themen und Motiven der Installation. Bei der Spurensuche helfen vereinzelt in die Arbeiten eingewebte Text-und Sprachfragmente, insbesondere ihre Titel bieten Aufschluss. Bezeichnungen aus der Biochemie und Humangenetik wie Genome, PCR (engl. Polymerase Chain Reaction, dt. Polymerase Kettenreaktion) und Curl, Anlehnungen an medientechnische Termini wie Loop, Verweise auf existentielle Empfindungen wie Lone composure und She’s lost control, die von Kontrollverlust, Chaos und Angst erzählen sowie Erfahrungsfragmente – vielleicht von Reisen auf hoher See – wie Sweet anchor und Sea breeze, lassen unterschiedliche Bezüge und Verknüpfungen zu medizin- und medientechnischen Verfahren und Gefühls- und Lebenswelten zu und kreieren zugleich insulare, lyrische Kosmen.

Die von Billerbeck locker im Raum ausgeworfenen losen Enden der visuellen, auditiven und textbasierten Fäden seines komplexen Narrativs, lassen sich schließlich bei näherer Betrachtung des übergeordneten Titels zu einem feingliedrigen, thematischen Ganzen verbinden. ATAXIA (griech. ataxía, dt. Unordnung) bezeichnet eine Störung in der Koordination der Muskelbewegung.* Ataraxia (griech. ataraxía, dt. Unerschütterlichkeit) verwendeten die Epikureer und Pyrrhoneer als Begriff für das Ideal der Seelenruhe und der emotionalen Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen.** Chaos und Ruhe, diese beiden Pole, stellen die Fliehkräfte der vorliegenden Arbeit dar.

Billerbeck war noch nicht zehn Jahre alt, als bei seinem Vater die spino-zerebelläre Ataxie Typ 3 (SCA3), eine spezielle degenerative Erkrankung des Kleinhirns, die sich in einer unkoordinierten Bewegungsstörung äußert, erstmals deutlich spürbar wurde. Die seltene, genetische Krankheit ist verantwortlich dafür, dass die Betroffenen sich nicht mehr wie gewohnt bewegen, sprechen und essen können –sie verlieren nach und nach die Kontrolle über ihren Körper. ATAXIA/ATARAXIA ist eine Momentaufnahme der gemeinsamen künstlerischen Arbeit von Leon Billerbeck und seinem Vater. Die daraus entstandenen Kunstwerke sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Billerbeck begleitete seinen Vater mit der Kamera und nahm Tonaufnahmen auf. Frank Billerbeck, der sich für die Musik des New Wave und Dark Wave der 1980er Jahre interessiert, liest mit langsamer, schleppender Stimme vier seiner Lieblingssongs vor: darunter She’s Lost Control(1979)von Joy Division. Aus diesen Aufnahmen und Sound entstand eine Klanginstallation mit vier Kompositionen. Leo Billerbeck extrahierte aus den originalen Lieblingssongs seines Vaters winzige Soundfragmente, um sie dann, inspiriert vom gemeinsamen Schaffensprozess und in Anlehnung an medizintechnische Verfahren wie der PCR, immer wieder zu vervielfältigen und so neue Klänge zu kreieren. Die in einem der Videos zu sehenden verwackelten Bilder, nahm sein Vater nach Jahren der Nichtbenutzung mit seiner alten Kamera, einem Sony-Camcorder aus den 1990er Jahren, der Videos auf sogenannte Hi-8 Kassetten speichert, auf seinen täglichen Ausflügen in die nahegelegene Umgebung auf. Sein Sohn hatte ihn hierzu ermutigt und die Videoaufnahmen im Anschluss nachbearbeitet und editiert.

Eine weitere Videoarbeit mit dem Titel Portrait of a loner with seabreeze besteht aus einem Videoloop eines Standbildes dieser Aufnahmen. Der gemeinsame Schaffensprozess von Vater und Sohn war nicht von konkreten Vorstellungen geprägt, was sich auch in den Druck-und Kopierexperimenten sowie den fragmentarischen Landschafts- und Körperdarstellungen zeigt, sondern von dem Wunsch geleitet für das Unsagbare, all die Gefühle angesichts einer unaufhaltsamen Krankheit, den damit verbundenen Kontrollverlust und den aktuellen Zustand seines Vaters, einen künstlerischen Ausdruck, eine eigene Sprache zu finden. Es geht Leo Billerbeck in seiner Kunst vor allem darum eine „Greifbarmachung der Dinge zu formulieren, der Existenz an sich. Dem was ist. Die pure Erfahrung irgendwie zu erstreben oder zumindest zu erdenken. Daraus entsteht dann wiederum der Zustand des Werdens und des sich stets Neu-Formulierens, also eine Transformation in jeder Erfahrung selbst, in der Beziehung zwischen uns und unserem Umfeld. “Das findet er „vor Allem interessant im Sinne der flüchtigen Eindrücke, die man durch das Fotografieren sammelt, aber auch durch das Kunst machen generell“, so Billerbeck. „Man probiert etwas zu materialisieren, was es vorerst nur in Gedanken gab, als Stimmung, als Gefühl. So ändert es sich dauerhaft, und ist eigentlich nicht zu greifen. Es steckt dort eine wechselseitige Prozesshaftigkeit dahinter, ein Unvermögen des Menschen etwas Konkretes festzuhalten, etwas Gegebenes einfach ‚rein‘ zu betrachten, oder mit anderen Worten etwas ‚Objektives‘ wahrzunehmen. “Für Billerbeck, der sich hier auf die Phänomenologie Edmund Husserls***bezieht, „bringt das etwas Verletzliches und Ehrliches in den künstlerischen Prozess. Das Können, das Mögliche, das Unwissen und Unvermögen, aber dennoch das Streben danach – eine Suche.“****

Leon Billerbeck versteht es auf subtile Weise ein Phänomen sichtbar zu machen, das normalerweise im Verborgenen bleibt. Billerbeck nimmt uns mit auf eine Reise durch seine Gedanken- und Gefühlswelten und lässt uns mit Hilfe seiner Kunst an seinem persönlichen und künstlerischen Entwicklungsprozess teilhaben; durch seinen beflügelten und hoffnungsvollen Blick geführt, trotz aller Schwere und Ausweglosigkeit des persönlichen Schicksals.

Die betreuenden Lehrenden Prof. Ursula Damm (Medienkunst / Mediengestaltung) und Prof. Björn Dahlem (Freie Kunst) schlugen die Arbeit für den Wettbewerb »gute aussichten« vor.

* „Störung der Koordination von Bewegungsabläufen, meist infolge eines mangelhaften Zusammenspiels verschiedener Muskelgruppen (Asynergie) und aufgrund falscher Abmessung von Zielbewegungen (Dysmetrie).

**Klinisch zeigen sich unkontrollierte und zugleich überschüssige Bewegungen wie Stand-und Gangunsicherheit, Störungen der Augenbewegungen, Dysarthrie, Dysdiadochokinese und Intentionstremor.“ Pschyrembel(2021), siehe https://www.pschyrembel.de/Ataxie/K033G/doc/.2Vgl. Wikipedia (2021), siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Ataraxie.

***Vgl. Edmund Husserl, Martin Heidegger, Phänomenologie (1927), hrsg. v.Renato Cristin, Berlin 1999; Ders., Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917).Text nach Husserliana, Bd.X, hrsg. v. Rudolf Bernet, Hamburg 1985.

****Leon Billerbeck zitiert aus der E-Mail-Kommunikation mit der Autorin, Januar 2021

Text: Babette Marie Werner
Fotos: Leon Billerbeck

Bauhaus Universität Weimar