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Es ist eines dieser Mysterien im Text-Design und -Layout: Warum werden so viele Überschriften und wichtige Zeilen in Versalien geschrieben? Auch gerne mal mehrzeilig. Am besten gleich das ganze Intro. Nach dem Motto: Sieht doch gut aus. Das hat so etwas Kreatives, ja Artifizielles. Das Problem dabei: Während es bei kurzen Überschriften absolut okay ist und sogar leichte Aufmerksamkeits-Vorteile bringt, werden die Pluspunkte der Großbuchstaben kleiner und kleiner. Bis sie schließlich in der Bleiwüste, die sie bei übermäßigem Auftreten bilden, verdunsten und sich in (heiße) Luft auflösen.

Nicht so laut!

Das kennt jeder – sei es aus Mails, Kurzmitteilungen, WhatApp-Nachrichten oder den sozialen Medien: In Großbuchstaben geschriebene einzelne Wörter werden – vorsichtig ausgedrückt – mit Nachdruck kommuniziert. Man könnte auch sagen, sie werden GESCHRIEN! Wer möchte angeschrien werden? Hinzu kommt, dass Wörter, die in Normalschreibung mit „ß“ geschrieben werden (ja, das gibt es noch…) in GROSSSCHREIBUNG mit drei (3!) „S“ hintereinander glänzen. Das ist nicht schön, aber orthografisch korrekt. Auf jeden Fall besser als das „ß“ in großer Schreibweise zu benutzen, die es nicht gibt.

Das ist wichtig. Und das. Und das…

So ist das mit übertriebener Betonung: Beispielsweise sind eingehende Mails mit rotem Ausrufezeichen oder gleich übertrieben laut gesprochene Worte allesamt so wichtig, dass sie … unwichtig werden. Wie ein dauernd ausgelöster Fehlalarm nutzt sich die Wirkung ab und wird vom Empfänger nicht mehr als wichtig wahrgenommen und ausgeblendet. Ebenso bei zu häufiger und über mehrere Zeilen (oder gar ganze Texte) durchgezogene versale Schreibweise: Sie hat keinerlei Aufmerksamkeits-Wirkung mehr, sondern ist nur der Vorliebe des verantwortlichen Designers, Layouters oder Chefs geschuldet.

Keine Aufmerksamkeits-Steigerung. Fast keine.

In einem kaum bekannten (und 2014 publizierten) Versuch testete die Textagentur Erfolgswelle die deutlichen unterschiedlichen Aufmerksamkeitswerte von Text in Großschreibung versus Normalschreibung. Der Versuchsaufbau: Seit 2006 platzierte Erfolgswelle ununterbrochen einen Textlink auf www.sloganmaker.de. Im klassischen SEO-Keywordstil ohne Bindestrich geschrieben, stand dort in Normalschreibweise „Slogans vom Profi Texter“ und wechselte regelmäßig auf die versale Schreibweise „SLOGANS VOM PROFI TEXTER“. Das Resultat war ernüchternd – jedenfalls für die Großschreibungs-Anhänger: Der Textlink mit den Versalien hatte eine Klickrate, die gerade mal 5 Prozent über der Klickrate des Links mit Normalschreibung lag – und so gerade eben noch als signifikant zu werten war. Oder anders gesagt: Bei ein paar weniger Klicks hätte es man dem Zufall zuschreiben müssen.

Nicht die Augen lesen, sondern das Gehirn

Der wichtigste Aspekt beim Lesen ist nicht das Sehen und Entziffern. Auch Großbuchstaben kann ich wunderbar sehen – jeden einzelnen Buchstaben vielleicht sogar noch besser als in Normalschrift. Der Punkt ist, dass unser Hirn innerhalb von Millisekunden den Prozess der Worterkennung und jeweiligen Sinnbildung abgeschlossen haben kann. Dies geschieht unter bestimmten Voraussetzungen: Es handelt sich um bekannte Wortmuster, die Sprache der Wörter ist bekannt und sie enthalten Sinn. Man kann es an dieser Stelle drehen und wenden wie man will: Normalschrift ist schneller (sinnstiftend) zu lesen. Die Zeilen in Abb. 1 verdeutlichen das:

Mehr braucht es nicht: Gerade bei ganzen Sätzen ist die normale Schreibweise leichter zu lesen.

Mehr braucht es nicht: Gerade bei ganzen Sätzen ist die normale Schreibweise leichter zu lesen.

In der Regel ist regelmäßige Schrift schlechter lesbar

Gerade in der deutschen Schriftsprache ist es – vereinfacht gesagt – ja so: Wörter am Satzanfang und Nomen werden groß geschrieben. Alle anderen, wie z. B. Verben, Adjektive, Pronomen, Artikel, Konjunktionen etc. werden klein geschrieben. Durch das Wissen um diese Schreibweisen kann das Gehirn beispielsweise Nomen von Verben unterscheiden und erkennt des Satzanfang schon am großen Anfangsbuchstaben. Hinzu kommt, dass bestimmte Buchstaben (Gemeinen), wie „t“, „l“ oder „b“ eine größere Oberlänge haben und so noch schneller als Bestandteil des Wortes erkannt werden. Anders die Schrift in Großbuchstaben: Durch den immer gleichen Zeilendurchschuss durch die gleiche Buchstabenhöhe der Versalien findet das Auge, das sich beim Lesen an der Oberkante der Buchstaben entlang tastet, „keinen Halt“. Es braucht entscheidende, spürbare Millisekunden länger. Für die Verantwortlichen der Stadt New York war das genug, um im Jahre 2010 für 27 Millionen Dollar alle Verkehrsschilder auf Normalschreibung umzustellen, siehe Abb. 2.

Altes (oben) und neues Schild (unten) während der Umstellung in New York City (Quelle: New York Times)

Altes (oben) und neues Schild (unten) während der Umstellung in New York City (Quelle: New York Times)

Fazit: Schrift ist trotz allem alles andere als normal

Es ist hier zum Abschluss noch einmal groß herauszustellen: Die Verwendung von Versalien ist in Dokumenten wie Urkunden, die von der Wirkung der präsenteren Buchstaben profitieren und nicht auf schnelle Lesbarkeit angewiesen sind, vollkommen okay. Trotzdem bleiben Schrift und Typographie etwas sehr persönliches. Das hat zur Folge, dass es wider alle Argumente und gegen das Leseempfinden weiterhin Texte mit langen oder sehr langen Zeilen und Passagen in Großschreibung geben wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass die eigenen Texte – oder die selbst gelayouteten Seiten – nicht gelesen werden. Jedenfalls nicht mit den „frischen Augen“, die es bräuchte, um eine nicht optimale Lesbarkeit ihrer Texte und Seiten zu bemerken.