Ein intelligentes, intuitives Brand Management System soll die Brand Performance einer der weltweit wertvollsten Marken steigern und einen messbaren Beitrag zum Unternehmenswert leisten.

DESIGNBOTE Redakteur Dipl. Des. Wolfgang Linneweber sprach mit Prof. Jochen Rädeker (Mit Kirsten Dietz, Gründer der Agentur Strichpunkt) und Nico Wüst (Head of Design Systems bei Strichpunkt) über das KI-gestützte, weltweit eingesetzte System, wie es entstand und was es kann.

Zwei Jahre sind knapp für so ein Mammutprojekt. Wie kam es zum Auftrag? Wieviel Manpower wurde inhouse aktiviert?

Prof. Jochen Rädeker

Prof. Jochen Rädeker

Jochen Rädeker:
Vorausgegangen war ein mehrstufiges, international durchgeführtes Auswahlverfahren. In der letzten Phase konnten wir uns gegen drei Wettbewerber aus Großbritannien durchsetzen. Schon der Pitch war kein klassischer CD-Pitch, da die letzte Corporate Design Überarbeitung nicht lange her war. Daher ist “an der Oberfläche” auch gar nicht so viel passiert.

Für uns war das ein guter Zeitpunkt um einerseits mit unserem Verständnis für Markenpersönlichkeiten und Markenentwicklung und andererseits mit unserer Erfahrung im Bereich Markenmanagement bzw. der Konzeption und technischen Umsetzung von Brand Portals zu punkten. Schon im Pitch war klar, dass wir ein System anstreben, dass nicht nur einfacher und praktikabler ist, sondern auch in Teilen automatisierbar.

Nico Wüst:
Inhouse hatten viele Kollegen, die teilweise auch schon am digitalen Branding von Audi gearbeitet hatten, genau das richtige Skill-Set. Im Bereich Development & KI waren auch schon die richtigen Teammitglieder am Start. Selbstverständlich haben wir außerdem an einigen Stellen über die verschiedenen Bereiche hinweg aufgestockt. Zeitweise haben 20-25 Personen gleichzeitig an den unterschiedlichen Workstreams wie Brand Personality, Corporate Font, Brand Portal oder Layout Creator gearbeitet. Das übergreifende Kernteam waren rund 8 Personen.

 

From Complexity towards Simplicity: Lässt sich die Arbeitsweise, hin zu einer easy und weltweit handhabbaren Lösung in einfachen Worten charakterisieren? Können Sie wichtige Schritte benennen?

Nico Wüst:
Wir hatten von Anfang an vor Augen, dass wir “Excellence. Simply delivered.” für das Markenmanagement “übersetzen” wollen. Kombiniert mit dem klaren Ziel, das Brand Management zu vereinfachen und dabei die Kreativität zu fördern, anstatt mit einem dicken Regelwerk zu behindern, entstand die Mission: Creative Excellence. Impressive Simplicity. Wenn man sich immer wieder auf ein übergeordnetes Ziel besinnt, fallen Entscheidungen innerhalb der Projekte oft leichter. Man hatte ein Credo, was auf allen Seiten half, die wirklich wichtigen Dinge voranzutreiben.

 

Ich stelle mir die Zusammenarbeit mit einem weltweit operierenden Konzern gelinde gesagt, nicht ganz einfach vor. Mit welchen konzerninternen Strukturen galt es sich zu synchronisieren und welche organisatorischen Probleme waren zu bewältigen?

Jochen Rädeker:
Darin haben wir zum Glück schon ein bisschen Übung 😉

Wir haben von Beginn an SCRUM eingeführt und in 2-Wochen-Sprints gearbeitet. Der riesen Vorteil daran: der Kunde ist extrem eng mit eingebunden, es gibt keine Überraschungen. Auch wenn man sich am Anfang reinfinden muss oder es vielleicht Zweifel an der ein oder anderen Stelle gibt, ist das Ergebnis dieser Arbeitsweise recht schnell klar: Effektivität & eine sehr gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit unseren Ansprechpartnern. Und da wir bei Strichpunkt rein cloud-basiert arbeiten, kann der Kunde quasi live dabei sein.

 

Ich nehme mal nicht an, dass sich Postler weltweit mit dem Layout-Tool Einladungen für ihre Grillabende gestalten sollen. Wer ist als legitimierte Nutzergruppen vorgesehen?

Nico Wüst:
Theoretisch kann jeder Mitarbeiter auf den Layout Creator zugreifen – und damit natürlich auch Medien für große und kleine DHL-Events gestalten. Die Idee ist ja, Design-Laien den Zugriff auf hochwertiges Design on Brand so einfach wie möglich zu machen. Ich bin selbst gespannt, auf was für Ideen die Mitarbeiter kommen.

Nico Wüst

Nico Wüst

Können Sie mal ganz volkstümlich und in Stichworten den Funktionsumfang des DHL Brand Hubs umreißen?

Jochen Rädeker:
Der Brand Hub ist quasi der One-stop-shop für alles, was die Marken DPDHL Group, Deutsche Post und DHL angeht – 24/7, responsive & benutzerfreundlich.

Nico Wüst:
Im Grunde geht es überhaupt nicht um Funktionen – sondern um einen möglichst einfachen, barrierefreien Zugang zum Design System. Wir haben uns vor allem darauf konzentriert, die Guides möglichst benutzerfreundlich zu gestalten und, wo sinnvoll, den Designern mit interaktiven Tools die Arbeit zu erleichtern. Aus diesem Grund haben wir die Guides auch ausführlich mit unterschiedlichen Usergruppen getestet – so lange bis aus deren Sicht alles exzellent und einfach war. Designer wollen ja keine Regeln pauken und unsinnige Logo-Schutzzonen einhalten. Statt dessen sollen unserer Meinung nach Designer befähigt werden, tolle Kreation zu machen und die Marke wirklich substanziell weiter zu bringen. Klar haben wir auch eine schlaue Suche, durchgängige Zweisprachigkeit, den KI-gestützten Layout Creator, eine nutzerfreundliche Mediendatenbank sowie künftig auch eine digitale Pattern Library mit Code-Snippets vorgesehen.

 

Mit dem Layout Creator lässt sich tatsächlich eine 10¹⁵ also eine Trilliarde (hab ich die Nullen korrekt gezählt?) Layoutvariationen gestalten …? Hatte ich die richtige Brille auf?

Jochen Rädeker:
Es sind tatsächlich mehr mögliche Varianten als es Ameisen auf unserem Planeten gibt 😉

Der Layout Creator ermittelt im Gestaltungsprozess aus dieser – zugegeben verrückt hohen Anzahl – an Varianten die besten für den jeweiligen Zweck. Diese Anzahl wird also nie erzeugt, sondern die “Kunst” ist es, aus den möglichen Varianten die Auswahl zu treffen (sog. “Pruning”). Der User bekommt davon quasi nichts mit, sondern einfach innerhalb von Sekunden für den individuellen Fall die besten 2-4 Gestaltungsvorschläge. Mehr würde ihn ja auch überfordern.

Warum wurde mit ‚Delivery‘ eigens ein neuer Font entwickelt? Welche Eigenschaften hat er, die Millionen bestehender Schriftbilder nicht besitzen. Und in ‚Latin, Greek, Cyrillic oder Arabic‘ funktionieren auch viele andere.


Nico Wüst:

Bis zur Einführung der “Delivery”, die wir übrigens gemeinsam mit Dalton Maag entwickelt haben, gab es sechs verschiedene Schriften “im Umlauf”. Um unser Ziel der Vereinfachung zu erreichen, bot sich eine eigene, maßgeschneiderte Schrift als Ersatz an. Die Schrift ist das einzige Gestaltungselement, das im Grunde an allen Touchpoints von der Smartwatch bis zur Flugzeuglackierung zum Einsatz kommt – und damit sehr markenprägend. Ein nicht zu verachtender Punkt ist natürlich auch der Kostenfaktor: keine Lizenzgebühren und deutlich weniger Administrationsaufwand. Die Delivery ist insbesondere für die Lesbarkeit an digitalen Touchpoints optimiert und nachhaltig weil platzsparend (was sich bei der riesigen DPDHL Group tatsächlich spürbar auf den Papierverbrauch auswirken wird).

Layout Creator

 

Ist Delivery auch als Kauffont verfügbar?

Nico Wüst:
Nein. Die Schrift ist zwar offen zugänglich, darf jedoch nur von der DHL, der Deutschen Post und der DPDHL Group verwendet werden.

 

Was ist unter ‚frei zugänglich‘ zu verstehen? Könnte ICH mich einloggen und DHL-Drucksachen oder mit dem Interface Design Kit eine mobil optimierte Website entwickeln?

Nico Wüst:
Im Brand Hub stehen keine Geheimnisse. Wir wollen ja im Gegenteil Barrieren abbauen, damit wirklich jeder ganz einfach mit dem Design arbeiten kann. Daher sind die meisten Inhalte ohne Login zugänglich. Für die Mediendatenbank oder den Layout Creator benötigt man allerdings einen Zugang, zum Beispiel um die eigenen Kreationen später auch wiederzufinden.

 

Wollen Sie mit dem Layout Creator Ihre globale Agenturkonkurrenz ausschalten – und im zweiten Schritt sich selbst?

Jochen Rädeker:
Der Layout Creator richtet sich derzeit an “Design-Laien”. Die Benutzeroberfläche ist eine Art interaktiver Dialog, der User wird geführt und kann sich auf den Inhalt konzentrieren. Neugestaltung in kreativer Qualität ist damit nicht abgedeckt – CD konformes Arbeiten, Zeitersparnis und bessere Ergebnisse jedoch schon.

Wenn zunehmend für unzählige Touchpoints wie bspw. interagierende Interfaces alles von Hand designt werden würde, sind wir uns sicher, dass eine stimmige Brand Experience ein Ding der Unmöglichkeit wird. Automatisierung liegt hier für bestimmte Bereiche einfach nahe.

Das kann man sicher als Angriff verstehen, man muss sich aber auch bewusst sein, dass rein ausführende Designarbeiten im Sinne von “ich kann InDesign, mein Kunde nicht”, kein zukunftsträchtiges Modell mehr ist.

 

Nico Wüst:
Wir machen damit eher lästige Routinearbeiten überflüssig, keinesfalls jedoch Kreativität. Die wirklich guten Ideen kommen sicher auch in Zukunft von Designern aus Fleisch und Blut.

 

In Ihrer Pressekommunikation loben Sie die gewonnenen ‚kreativen Freiräume‘. Wo tun sich diese für Ihr Haus auf? Mein erster Reflex war: Wenn visuelle Kommunikation wie auf Schienen läuft, wo sind da die Freiräume?

Nico Wüst:
Bei aller Konsistenz sind gut geführte Marken vor allem spannend, interaktiv und lebendig. Uniformität ist falsch verstandene Konsistenz und macht Marken langweilig. Daher wollen wir über ein modulares Design System Flexibilität für kreativen Freiraum schaffen. Ähnlich wie bei Lego kann ich unterschiedliche Module von DHL deutlich freier als zuvor kombinieren und damit für meinen Anwendungsfall das optimale Ergebnis entwickeln. Den Freiraum schaffen wir also nicht für unser Haus, sondern für die vielen Designer, die auf der ganzen Welt für DHL arbeiten. Ein solches, modulares Design System ist im Übrigen auch die Basis dafür, überhaupt KI-basierte Tools anbinden zu können.

Jochen Rädeker:
Wenn dann auch noch Arbeiten, die keine Kreativität erfordern, mehr und mehr automatisiert werden, bleibt Zeit, den Kunden zu überraschen, strategisch intelligent zu denken, Lösungen zu entwickeln, Impulsgeber und Berater zu sein.

 

Wie werden Textinhalte gemanagt? Wer ist Herr der textlichen Aussagen? Wie wird verhindert, dass auf einem Poster ‚DHL ist doof!‘ stehen kann? Gibt es einen Textbaukasten?

Nico Wüst:
Das gibt es aktuell noch nicht, ist aber vergleichsweise einfach umsetzbar.

 

Gibt es im Hintergrund eine Art (hackinggeschützter) zentraler Steuerung, wo neue Inhalte hochgeladen und bestehende Inhalte bearbeitet werden?

Nico Wüst:
Es gibt natürlich ein Backend zur Verwaltung aller Inhalte. Dort können wir Guidelines ändern, neue Medien hochladen oder die Möglichkeiten des Layout Creators erweitern.

 

Welchen Job übernimmt AI in der Lösung? In welchen Bereichen setzt sie ein?

Nico Wüst:
Wie im richtigen Leben gibt der Kunde nur die Inhalte vor. Die eigentliche Gestaltungsaufgabe übernimmt statt einem Grafiker vollständig die KI. Wichtig zu verstehen ist, dass es im Hintergrund keine Templates gibt. Statt dessen berechnet auf Basis der definierten Inhalte die KI im Hintergrund in Sekundenbruchteilen unzählige Layout-Varianten. Was da alles berechnet, bewertet und aussortiert wird, bekommt der Benutzer aber gar nicht mit – Stichwort ‚Simplification‘. Der Benutzer bekommt zwei bis vier deutlich unterschiedliche Layouts präsentiert, muss sich dann nur noch entscheiden und kann auf Wunsch noch mit ein paar Design-Parametern selbst die Gestaltung optimieren. Besonders stolz sind wir darauf, dass wir dem Layout Creator nicht nur das CD von DHL beigebracht haben, auf einem anderen Layer übernimmt SPML (Strichpunkt Markup Language) die Aufgabe, nach ästhetischen, grafischen Kriterien zu gestalten und zu bewerten. Darin steckt sozusagen unser Design-Know-how. Der Layout Creator wäre also auch mit einem anderen Brand Design möglich.

War die AI zugekauft oder ist sie eine Inhouse-Entwicklung?

Jochen Rädeker:
Wir können nicht behaupten, dass wir uns nicht umgeschaut haben, weil wir dachten, es gäbe Lösungen die wir zukaufen können. Dem war aber nicht so, also haben wir den Layout Creator inhouse entwickelt.

 

Bekamen Sie schon ‚Komplimente‘ von Chinesen? Sprich: Wurde die Strichpunkt-Lösung schon kopiert?

Jochen Rädeker:
Nein – mit allen Komponenten ist das System “zum Glück” auch so komplex, dass eine Kopie zumindest eine harte Nuss wird.
Auch unabhängig von China sind wir uns allerdings sicher, dass Investitionen in derartige Tools stattfinden. Wie schon angedeutet, die Marken-Touchpoints verändern sich und die technischen Möglichkeiten werden den Designberuf verändern. Hoffen wir, dass das Ausbildungs-/Studiensystem rechtzeitig mitzieht!

 

„Meine Herren, ganz herzlichen Dank, dass Sie Zeit für uns hatten!“