Am 18. Januar 1954 erblickte Kiki Smith in Nürnberg, als Tochter des Bildhauers Tony Smith (1912–1980) und der Opernsängerin Jane Lawrence (1915–2005) das Licht der Welt, wo die Eltern 1953 bis 1955 wegen eines Theater-Engagements gelebt hatten.

In den letzten vier Jahrzehnten hat sich die US-Amerikanerin einen Namen als eine der fesselndsten und originellsten Künstlerinnen ihrer Generation gemacht. Am bekanntesten ist sie für ihre Darstellungen der menschlichen Gestalt – sowohl in anatomischen Einzelteilen als auch in vollständigen Figuren. Sie hat ein breites Themenspektrum erkundet, darunter Religion, Folklore, Mythologie, Naturwissenschaften, Kunstgeschichte und Feminismus. Als bemerkenswerte Innovatorin auf dem Gebiet der figurativen Skulptur ist Smith auch eine versierte Druckgrafikerin und Zeichnerin, deren Arbeit die verblüffenden Möglichkeiten offenbart, die in überraschenden Materialien stecken. Häufig mit einfachen Gesten hat sie den Körper als Metapher benutzt, um das Menschsein, seine Stärken und Schwächen zu reflektieren und dies in Form von Bronzeguss, Holz- und Textilarbeiten, Zeichnungen, Druckgrafik aber auch filmisch zum Ausdruck gebracht.

In den 1950er und 1960ern wuchs Smith in South Orange, New Jersey, auf. Der Vater brachte seiner Tochter in seinem Atelier das Zeichnen bei, schon als Kind fertigte seine Tochter Modelle für dessen abstrakte Skulpturen.

Tony Smith gilt als einer der bekanntesten US-Bildhauer der 60er Jahre in den USA und als Vorreiter des Minimalismus. Zum väterlichen Freundeskreis zählten Vertreter des Amerikanischen Abstrakten Expressionismus wie Jackson Pollock, Richard Tuttle, Barnett Newman und Mark Rothko. Tony Smith gilt als Pionier der ’Site-Specific-Sculpture’ und schuf 1962 einen stählernen, schwarzen Kubus mit dem Titel „Die“. Diese Skulptur ist für die Kunstgeschichte wegweisend wie auch für die Entwicklung der Minimal Art prägend.

“Prior to my father’s death, I was having a hard time committing to a career as an artist, but that’s not because of who he was – it was because of who I am. It’s true, though, that I felt I shouldn’t compete with him, and that those feelings went away after he died.” Kiki Smith

Schon 1970 interessiert sich die erst 16-jährige Kiki für Volkskunst und Kunstgewerbe und fertigt für die Witwe des kurz zuvor verstorbenen Barnett Newman eine Decke an. Das junge Mädchen begeistert sich für die ihrer Meinung unterbewerteten weiblichen Fertigkeiten wie das gemeinsame Quilten und den oftmals anonym bleibenden Stickerinnen von kostbaren Kleidungsstücken oder Tapisserien.

Nach Abschluss der High School studiert Kiki Smith anderthalb Jahre an der Hartford Art School und besucht eine Filmklasse an der San Francisco State University. 1976 bricht sie jedoch ihr Studium ab und zieht nach New York, um sich dem Künstlerkollektiv CoLab anzuschließen. Beeinflusst durch Künstlerinnen wie Louise Bourgeois, Eva Hesse, Nancy Spero und Hannah Wilke wird der menschliche Körper zu ihrem zentralen Thema. Sie fertigt zunächst Siebdrucke von Kleidungsstücken und beginnt anatomische Bilder von Gliedmaßen und Organen auszustellen. Als 1980 ihr Vater in New York stirbt, wendet sie sich dem Abgießen von Körperteilen lebender Personen zu.

1985 jobbt Smith für drei Monate in der Notaufnahme des Bedford Stuyvesant Brooklyn Interfaith Hospital um ihre Anatomiekenntnisse zu erweitern. Künstlerisch wendet sie sich den inneren Organen und ihrem Funktionieren zu. Ein Schlüsselwerk aus dieser Epoche, in der sie 1985 am New York Experimental Glass Workshop teilnahm, ist der ‘Glass Stomach’ aus demselben Jahr. 1987 entsteht ihr Werk ‘Ribs’ aus zusammengeschnürten Keramikknochen.

Aids wirkte in den späten Achtzigern als entscheidende Zäsur in der Art der künstlerischen Umsetzung ihrer Vorstellungen vom menschlichen Körper. Dass eine ihrer beiden Schwestern 1988 an HIV starb, sollte dieses Interesse noch vertiefen. Smith fing jetzt an, komplette Körper aus so verschiedenen Materialien wie Bienenwachs, Papier, Bronze herzustellen. Der Körper der Frau ist für Smith mit politischer und gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen, weshalb sie jetzt traditionelle feminine Archetypen aus Religion, Mythologie und Folklore thematisiert: ihre Arbeit ‘Virgin Mary’ (1992, Pace Gallery, New York) aus Bienenwachs Gray S Anatomy Images, Gray S Anatomy Transparent PNG, Free download, Pigmenen, Käsegaze und Holz, 171,5 x 66 x 36,8 cm zeigt Merkmale eines Anatomiemodells, gemahnt aber an die von ihr so geliebten Madonnenstatuen des deutschen Mittelalters. Diese Darstellungsweise wird inspiriert durch Smiths Faszination für historische Anatomietafeln wie aus ‘Gray‘s Anatomy’ von Henry Gray aus dem Jahr 1858 oder den Illustrationen der Buchreihe ‘Fabrica’ des flämischen Anatomen Andreas Vesalius (1514 – 1564) aus 1543.

“I always say I’m Catholic – but a cultural Catholic. I wouldn’t say I’m a spiritual person, although I pray every day.” Kiki Schmith

Die AIDS-Epidemie wurde zur entscheidenden Zäsur in Smiths künstlerischen Ideen und Vorstellungen vom menschlichen Körper. Kiki Smith begann jetzt vollständige (weibliche) Körper aus so unterschiedlichen Materialien wie Bienenwachs, Papier, Bronze darzustellen. Der weibliche Körper war für sie mit politischer und sozialer Bedeutung aufgeladen. Die Skulptur ‘Digestive System’ (Privatbesitz) – Typisch für diese Schaffensphase ist die Eisenarbeit ‘Digestive System’ aus dem Jahr 1990. Sie dekonstruiert, wie auch der ‘Glass Stomach’, eben diesen Körper und sorgt für eine Ausstellung im Projects Room des Museum of Modern Art in New York und der Künstlerin endlich die verdiente internationale Aufmerksamkeit. 1993 nimmt sie erstmals an der Biennale von Venedig teil. 1994 entsteht die alttestamentarisch inspirierte, insektenartig wirkende Bronze ‘Lilith’ (Museum of Fine Arts, Boston) mit ihren unheimlich starrenden Glasaugen.

 

Smiths Leidenschaft für Tiere reicht weit über das Mythische und Religiöse hinaus. Als sie 1995 in der Zeitung von Vögeln liest, die in New Jersey tot vom Himmel fielen, nachdem sie in einen Nebel aus Pflanzenschutzmittel geflogen waren, baut sie die Installation ‘Jersey Crows’ (1995/2017), die aus 20 schwarzen, ‘toten’ Krähen aus Bronzeguss besteht.

Mit dem Renaissancekünstler Albrecht Dürer verbindet sie ihr Geburtsort Nürnberg aber auch die Liebe zur Druckgrafik. Einige von Smith’s berühmtesten Drucken entstanden in der Druckwerkstatt ULAE von Bill Goldston, der schon für und mit u.a. Larry Rivers, Robert Rauschenberg und Helen Frankenthaler zusammenarbeitete.

Für die berühmte, surreal in die zweite Dimension überführte Photogravüre ‘My Blue Lake’ (1995), eine 360-Grad-Ansicht von Smith’s Kopf und Oberkörper reiste sie mit Goldston zum British Museum nach London, um sich selbst zwei Tage lang mit einer speziellen Rundumkamera zu fotografieren.

1998 wird ‘Standing’, als Smiths erste Skulptur im Öffentlichen Raum in der University of California, San Diego aufgestellt. Eine weibliche Figur steht auf dem Stumpf eines Eukalyptusbaumes und ist Teil der Stuart Collection of Public Art. 1999 nimmt Smith zum zweiten Mal an der Biennale von Venedig teil und wird 2000 der Skowhegan Medal for Sculpture geehrt. 2001 entsteht die Skulptur ‘Rapture’ (Pace Gallery, New York) als einer Wölfin, die eine Frau gebiert, die vom Ende des Märchens vom Little Red Riding Hood (Rotkäppchen), wie auch der Idee der Wiedergeburt inspiriert sein mag. 2003 folgt eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art und schon 2005 stellt Smith zum dritten Mal auf der Biennale von Venedig aus. Smith wird mit dem Athena Award von der Rhode Island School of Design für ihre Verdienste um die Druckgrafik ausgezeichnet und in die American Academy of Arts and Letters, New York, NY aufgenommen.

“Ich war schockiert, als ich realisierte, dass die holländische Landschaftsmalerei tatsächlich wie Holland und die chinesische wie China aussieht: dass die Künstler das nicht erfunden hatten, wie ich ursprünglich annahm.” Kiki Smith in VOGUE 2019

2006 folgt die Retrospektive Kiki Smith: A Gathering, 1980-2005 im Walker Art Center, Minneapolis mit 125 Objekten aus ihrer nunmehr 25jährigen Karriere.

Im selben Jahr ist Kiki Smith für das TIME-Magazin eine der „The 2006 TIME 100: The People Who Shape Our World” und wird 2007 von der Royal Academy of Arts in London zur Honorary Royal Academician (Ehrenmitglied) gewählt. 2009 stellt Smith zum vierten Mal auf der Biennale von Venedig aus und wird 2012 von Hillary Clinton mit der U.S. State Department Medal of Arts ausgezeichnet. 2017 nimmt Kiki Smith zum fünften Mal an der Biennale von Venedig teil.

2014 thematisiert eine Serie von Tapisserien der Künstlerin mit der “Hippie-Ikonographie” und den Wundern der Natur – eine Phantasiewelt, in der man sich leicht verliert. Diese großformatigen Textilien mit imaginierten Szenen aus Natur, Kosmologie, der Werbung der zwanziger Jahre und der Bilderwelt der Hippies verweisen aber auch auf die Allegorien und Erzählungen traditioneller Tapisserien. Das kulturelle Erbe der Jacquardweberei bekommt in diesen zeitgenössischen Interpretationen durch eine digitale Produktionsweise neues Leben eingehaucht. So können unglaublich detaillierte, vorher unvorstellbare Werke entstehen.

Kiki Smith lebt und arbeitet in East Village, New York City sowie in Catskill, zweihundert Kilometer nördlich von New York City.

In den letzten Jahren wurden Tiere immer wichtiger im Kosmos Kiki Smiths. Die Natur zu erhalten, die Balance wiederzufinden, zählt seither zu ihren wichtigen Botschaften. Jüngste Arbeiten nutzen dafür auch das Geschichtenerzählen, wie die Tapisserien.

Stock Photos:
Skulptur “Standing” / Titelbild: Steven W Moore / Shutterstock.com
Portrait Kiki Smith: Ron Adar / Shutterstock.com
Skulptur Trenton: Kelleher Photography / Shutterstock.com