Die wpn2030 – Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 – unterstützt seit Mai 2017 die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der globalen Agenda 2030. Seit dem 01. Januar dieses Jahres ist Prof. Dr. Christa Liedtke Co-Vorsitzende der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 (wpn2030).

Damit verantwortet Liedtke nun die inhaltliche und operative Ausgestaltung der Arbeit der wpn2030 zusammen mit Prof. Dr. Daniela Jacob, Institutsleiterin des Climate Service Center Germany und Vorsitzende des DKN Future Earth, und Prof. Dr. Patrizia Nanz, wissenschaftliche Direktorin des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS Potsdam). Diese Aufgabe führen sie gemeinsam durch mit einem transdisziplinär zusammengesetzten Lenkungskreis, dem sie vorsitzen.

Prof. Dr. Christa Liedtke ist Professorin für „Nachhaltigkeit im Design“ der Fachgruppe Industrial Design an der Folkwang Universität der Künste, sie leitet die Abteilung „Nachhaltiges Produzieren & Konsumieren“ am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und ist Mitglied im Lenkungsausschuss des Sustainable Development Solutions Network (SDSN) Germany, dem Sachverständigenrat für Verbraucherfragen des BMJV sowie Co-Vorsitzende der Ressourcenkommission am Umweltbundesamt.

Frau von der Leyen will 3 Billionen in einen ‘Green Deal’ investieren. Es scheint, als sei es an den Frauen, diese Welt in ihrer existenziellen Krise zu retten.

Frau Professorin Liedtke, DESIGNBOTE.com gratuliert herzlich zur neuen Position!

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Prof. Christa Liedtke, Foto Daniel Wilkens

Als Student war ich anno 1979 einer der politisch bewegten Konsumverweigerer, die sich nicht an der damals vom Club of Rome in Die Grenzen des Wachstums vorhergesagten Krise des Planeten schuldig machen wollten. Viele Designstudenten wollten keine Erfüllungsgehilfen einer Industrie sein, die immer weiter, im Grunde überflüssige Produkte in den Markt drückte. Seitdem hat sich die Erde weitergedreht, aber nicht unbedingt zum Vorteil verändert. Wie zerstreuen Sie die Zweifel eines jungen Menschen am Berufswunsch ‘Industrial Designer’?

Die Studierenden dorthin zu führen, die von Ihnen beschriebenen Widersprüchlichkeiten als Gestaltungsaufgabe, gar Herausforderung wahrzunehmen und zu lernen, mit ihnen schöpferisch umzugehen, ist eine der großen didaktischen Aufgaben der Lehrenden im Industrial Design. Die Fachdisziplin steht seit ihrer Entstehung vor der Herausforderung mit stark arbeitsteilig organisierten Prozessen der Industrialisierung und nun Digitalisierung umzugehen. Die Gefahr durch die Industrie instrumentalisiert zu werden, besteht. Man kann sich ihr entziehen, wenn man sich entschließt, überhaupt nicht zu gestalten oder man ist sich ihrer bewusst und nutzt die Anliegen von Industrie und Gesellschaft, um sinnhafte und nachhaltige Produkte zu entwickeln. Gelegentlich kann es tatsächlich die beste Strategie sein nichts zu gestalten, im Allgemeinen halte ich es jedoch für wichtig, immer wieder zu hinterfragen, ob wir ein Produkt benötigen oder nicht. Manchmal kann es wesentlich sinnvoller sein, zunächst den dahinter liegenden Service in den Blick zu nehmen sowie auch den Wandel der Lebensstile und zu fragen, wie eine solche Dienstleistung sinnvoll zu gestalten ist. Wir begeben uns mit unserer Gestaltung mitten hinein in die Gesellschaft. Wie eine dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung der Gesellschaft mit den Mitteln des Designs gestaltet werden kann, bildet dabei den Kern der Forschung und Lehre, die auf Theoriegerüsten der Transformationsforschung und des Transition Designs ebenso aufbaut, wie auf Ansätzen aus dem Social Design und der Circular Economy.

Frau Professorin Liedtke, Sie vertreten die Transformationsforschung zum nachhaltigen Produzieren und Konsumieren sowie das Transition Design. Wie lassen sich die widersprüchlichen Begrifflichkeiten ‘nachhaltig’ und ‘konsumieren’ versöhnen? Und was ist unter dem Begriff ‘Transition Design’ zu verstehen?

Für mich stehen die Begriffe ‘nachhaltig‘ und ‘konsumieren‘ nicht unbedingt im Widerspruch. Viele der alltäglichen Produkte, Dienstleistungen und Ressourcen, die wir konsumieren, sind ja durchaus sinnvolle Errungenschaften, die ich auch gar nicht missen möchte. Stellen Sie sich mal vor, Sie müssten sich vollkommen selbstständig mit Lebensmitteln, sauberer Wäsche, Wasser, Wärme und Energie versorgen. Was glauben Sie, wie viel Freiheit bliebe Ihnen da für andere Dinge? So gesehen ermöglicht Konsum auch freie Entfaltung, aber selbstverständlich kommt es eben auf das ökologisch verträgliche Maß an. Überkonsum ist problematisch – oft für den Mensch selbst, insbesondere aber für die Natur. Wie sich die Pfade hin zum ökologisch Verträglichen auf sozial verträgliche Weise gestalten lassen, wie wir Verhaltensveränderungen und Wertewandel erzeugen und begleiten können, sind zentrale Fragestellungen von Transition Design.

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Transition Design Guide Cover

Um ein Beispiel zu nennen: Wir erforschen an der Folkwang Universität der Künste momentan in einem großen BMBF-Kooperationsprojekt, wie man einen Kühlschrank kreislauffähig umgestalten könnte. Nun könnte man sich klassisch auf die Optimierung der Konstruktion und die Materialität des Kühlschranks stürzen. Das sind schon wichtige gestalterische Herausforderungen, doch um die technologischen und sozialen Potenziale für die Zukunft und das 1,5-Grad-Ziel auszuloten, wäre es doch viel spannender, wenn wir uns auch überlegen, welchen Service der Kühlschrank eigentlich anbietet: Gesunde und flexible Lebensmittellagerung im Haushalt und Quartier –  dann können wir Zukünfte gestalten und Innovationen eine nachhaltige Richtung geben. Dazu benötigen wir die Unternehmen und die Menschen mit ihren Kompetenzen.

Der Name wpn2030 suggeriert es: Welche Ziele sollen 2030 erreicht sein?
In welchen Bereichen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft findet die Arbeit des wpn2030 schon Umsetzungen?

Der übergreifende Zusammenhang der Plattform sind die Sustainable Development Goals (SDGs) der Agenda 2030 und insbesondere ihre Umsetzung in, mit und durch Deutschland. Damit sind allgemein Ziele und Zeitrahmen umrissen. Konkret arbeitet die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit in ihren ersten drei Jahren in vier fachlich vertiefenden Themenschwerpunkten (Nachhaltiger Konsum, Zukunft der Arbeit, Global Commons, Mobilität) sowie in drei übergreifenden Themensträngen (Dialog mit wissenschaftlichen Beiräten, Mobilisierung der Wissenschaft, Europa und, beginnend, auch die globale Ebene). Darauf kann ich jetzt aufbauen und helfen, es thematisch und auch konzeptionell weiterzuentwickeln. Ein persönliches Ziel von mir als Professorin im Industrial Design ist, das Thema ‘Design‘ und Kommunikation generell stärker in den Köpfen von anderen wissenschaftlichen Disziplinen und politischen Entscheidungsträger*innen zu verankern. Auch die wpn2030 muss aus meiner Sicht um ein so universelles und wichtiges Thema wie Design erweitert werden. Design kann wahnsinnig viel beitragen zur nachhaltigen Entwicklung. Selbiges gilt für den Kulturbereich. Kunst und Kultur haben im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte mehr als nur die Funktion des Vermittlers: Sie adressieren die Phantasie der Menschen und öffnen so Möglichkeitsräume in einer Zeit, in der viele die Situation als zunehmend aussichtslos empfinden. Sie schaffen niedrigschwellige Themenzugänge zu oft komplizierten oder abstrakten Fakten. Design, Kunst und Kultur haben das Potential, Emotionen zu wecken, soziale Bindung zu ermöglichen, Bewusstsein zu schaffen, Innovationsprozesse zu beschleunigen und so die Transformation von Lebensstilen maßgeblich voranzutreiben.

Sie leiten die Abteilung „Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren“ am Wuppertal Institut. Wie sieht, als Biologin, Ihr Beitrag zur wpn2030 aus?

Ich denke meinen Beitrag zur wpn2030 weniger von meiner ursprünglichen Profession als Biologin aus, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der inter- und transdisziplinären Vernetzung. Meine eigene Fachdisziplin bildet dabei mein Fundament, Forschungsfragen mit in die Transformationsforschung einzubringen. Die aktuelle Problemlage ist derart komplex, dass sie sich nicht durch abgeschottete Einzeldisziplinen wird lösen lassen. Verschiedene Fachdisziplinen, wie auch Wissenschaft, Gesellschaft und Politik müssen Hand in Hand gehen. Reallabore, Citizen Science und Co-Creation/-Design sind Ansätze, die hier produktiv verfolgt werden sollten.

Welche Rolle spielt die Nachhaltigkeitsphilosophie Cradle2Cradle, die ja in den Niederlanden schon seit ein paar Jahren zu Politik geworden ist?

C2C wird selbstverständlich diskutiert, hat aber möglicherweise nicht den Fokus wie bei unseren niederländischen Nachbarn. Bio Schmidt-Bleek richtete schon Anfang der Neunziger zusammen mit Walter Stahel und anderen seinen Blick darauf und verankerte die Perspektive der Kreisläufe in unsere Methodenentwicklung und seinem Faktor 10-Konzept – seine Bücher sind aktueller denn je. Er hat schon damals zum Öko-Design publiziert. Ob wir nun von Cradle-to-Cradle, Circular Economy oder Design for Circularity reden, in allen Fällen müssen wir auch so ehrlich bleiben, dass es sich letztlich um idealisierte Konzepte handelt, die sich niemals zu 100% so umsetzen lassen werden. Da macht uns leider der 2. Hauptsatz der Thermodynamik einen Strich durch die Rechnung. Wichtig ist aber, die Potenziale, die in einer Circular Economy stecken, möglichst vollständig auszuschöpfen – dies sowohl in der Produktion als auch im Konsum. Denn sie spenden einen sehr wichtigen Beitrag zum 1,5 Grad Ziel. Und schon wieder kommen wir damit zum Thema Gestaltung – eine Kreislaufwirtschaft kann nur mit ebensolch gestalteten Servicesystemen erfolgen. Deshalb beschäftigt sich z.B. bei uns am Wuppertal Institut ein Kollege mit den Fragen, wie Designer*innen durch Gestaltung wirksam zur Metalllogistik beitragen können, welche Legierungen kann ich für welche Anwendung oder Funktion nutzen – z.B. Smartphones – und diese auch getrennt im Kreislauf führen. Bisher werden von den Funktionsmetallen weniger als 1% zurückgeführt. Es geht also unter anderem darum, Produkte so zu gestalten, dass einzelne Komponenten, die Seltene Erden enthalten, leichter recycelt werden können, um möglichst wenig Rohstoffe zu verlieren. Ein Stichwort in diesem Zusammenhang ist auch das Remanufacturing.

In der Pressemitteilung werden Sie zitiert: „Die Plattform wpn2030 hat in ihren ersten drei Jahren beachtliche Ergebnisse für die wissenschaftliche Begleitung der deutschen Nachhaltigkeitspolitik vorgelegt (…)” Können Sie Beispiele benennen?

Ich möchte mich gern auf zwei Punkte konzentrieren: Zum einen ist mit dem „Reflexionspapier“ zur Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die für dieses Jahr ansteht, zum ersten Mal die Stimme der Wissenschaft systematisch und kollektiv in die Umsetzung der deutschen Nachhaltigkeitspolitik eingeflossen. Wissenschaft ist in ihren Methoden und den einzelnen Schlussfolgerungen immer plural. Wenn es aber gelingt, ihre Stimme zu bündeln und auf übergreifende Fragestellungen der Nachhaltigkeitspolitik zu fokussieren, kann sie wirksamer für Umsetzungsprozesse werden – und damit zugleich auch ihre Leistungsfähigkeit untermauern. Zum anderen besteht mit der Wissenschaftsplattform allgemein eine Möglichkeit, vorhandenes wissenschaftliches Wissen systematischer in Umsetzungsprozesse der Politik einzuspeisen – beispielsweise in Form des viel beachteten Dialogs der Wissenschaftlichen Beiräte der Bundesregierung zu Nachhaltigkeitsfragen, den die Wissenschaftsplattform gemeinsam mit dem Sustainable Development Solutions Network Germany im Jahr 2018 initiiert hat – und infolgedessen im Austausch mit Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung und Gesellschaft wichtige Bedarfe in die Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung zurück zu spielen (wie beispielsweise in die gegenwärtige Neuauflage des Forschung für Nachhaltigkeit kurz FONA Programms des BMBF).

Wer glaubt, dass eine “menschen-, klima- und umweltgerechte Welt für über zehn Milliarden Menschen 2050” (Imagebroschüre Wuppertal Institut) möglich sein könnte, muss schon unerschütterlich optimistisch sein. Was ist in diesen dreißig Jahren zu leisten und welche Möglichkeiten der Bewusstseins- und Willensbildung und schließlich der politischen Umsetzung sehen Sie? Über welche weltumspannenden Netzwerke, Organisationen oder Kanäle, wirkt wpn2030 in Politik und Wirtschaft hinein?

Im Bereich der Bewusstseins- und Willensbildung arbeitet das Wuppertal Institut verstärkt auch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen, die nicht nur Change Agents, sondern wichtige Multiplikatoren sind. Im Rahmen von Reallaboren untersuchen und testen wir gemeinsam mit den potentiellen Nutzer*innen neue Produkt- Dienstleistungssysteme, um eine größere Akzeptanz zu schaffen und Rebound Effekte zu vermeiden. Wir möchten soziale Innovation erzeugen, indem wir uns eng an den persönlichen Lebensstilen der Nutzer*innen orientieren.

Die wpn2030 lebt vor allem vom Mitmachen verschiedener Akteure. Auf ihrer ersten Jahreskonferenz 2019 hat die Plattform ein solches konkretes Angebot zur Mitwirkung unterbreitet. Auch über ihre drei unterschiedlichen wissenschaftlichen Trägerorganisationen SDSN, DKN und IASS, die alle jeweils eigene Netzwerke einbringen, wird die Plattform in der nationalen und auch internationalen (Forschungs-)Landschaft für Nachhaltigkeit verankert. Hervorheben möchte ich als Mitglied des Lenkungsausschusses von SDNS Germany auch noch einmal gesondert, dass das SDSN nicht nur in Deutschland, sondern global agiert und dabei Universitäten und Forschungszentren weltweit vernetzt.

Gelesen, gelacht, gelocht … Mein Eindruck: Die Industrie hört höflich zu, hat aber nur den Shareholder Value im Blick und es wird gelogen, verschleppt und verzögert wo’s nur geht, um dann weiterzumachen, wie gehabt. Wie ernst werden wissenschaftliche Aussagen von Politik und Wirtschaft genommen, was kommt davon überhaupt verständlich beim Bürger an? Besteht Anlass zu Optimismus? Immerhin hat der Investmentriese BlackRock jetzt umweltverantwortliches Handeln eingefordert. „Jede Regierung, jedes Unternehmen und jeder Anleger muss sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen“, schrieb Blackrock-Chef Larry Fink neulich.

Die Beispiele zeigen doch, dass sich Konzerne mittlerweile einer öffentlichen Debatte ausgesetzt sehen, wenn sie für die Öffentlichkeit nicht umweltgerecht handeln. Auch Siemens kann nicht mehr einfach voranschreiten, ohne von der Gesellschaft offen bewertet zu werden. BlackRock muss reagieren, auf das, was an sie herangetragen wird. Ich halte diese Entwicklungen zurzeit für sehr spannend – es tut sich etwas im Umgang miteinander. Debatten um den besseren Weg wurden angestoßen und Debatten um die Einhaltung gesellschaftspolitischer Verträge und unternehmerisch benannter Ziele und Bekenntnisse. Anders lässt sich eine Transformation nicht gestalten, als durch offene, kritische Diskurse und Debatten zwischen den Menschen und Institutionen. Auch Design ist immer politisch – wirft es doch Objekte und Dinge in die Welt und erzeugt damit Interaktionen. Diese Kraft der gewollten oder auch ungewollten Veränderung haben wir im Design noch gar nicht offensiv in die laufende Debatte geworfen. Da wünsche ich mir mehr Mut und Sichtbarkeit all der kreativen Kraft, die ich an den Universitäten sehe – in Ausstellungen, Konzepten und Prototypen/Mockups. Christoph Tochtrop von der Folkwang Universität hat z.B. die Aktion „Produktrecht“ konzeptionell entwickelt – jedes Produkt hat ein Recht auf Nutzung. Was ist denn dann mit all den ungenutzten Produkten im Haushalt, wenn sie ein Recht auf Nutzung hätten?

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Aktion Produktrecht: Spielkarten-Exprot, Foto Christian Tochtropp

Aktion Produktrecht: Etwas mehr als Nichts, Foto Christian Tochtropp

Vor allem in Asien streben Milliarden von Konsumenten nach einem ‘besseren’ Leben mit individueller Mobilität, einer Abkehr von traditionellen Ernährungsmustern und statusträchtigen Konsumgütern. Haben Sie bzw. die wpn2030 international / interkulturell gültige Rezepte, mit denen diese konsumhungrigen Teile der Menschheit mitgenommen werden könnten in eine ‘nachhaltige’ Zukunft auf diesem Planeten?

Erst einmal sollte man vielleicht nicht immer vom Schlechtesten ausgehen – ich sehe so viel Positives in den Haushalten und unseren Projekten: Wie Menschen sich entscheiden und verhalten, ist ja in erster Linie ein Ergebnis kultureller und gesellschaftlicher Prägungen und Normen, die sich über Jahrzehnte entwickeln und wandeln. Asien ist Dank wachsender wirtschaftlicher Prosperität nun an einem Punkt, bei dem immer mehr Menschen am Wohlstand teilhaben können. Bei aller Armut, die es immer noch gibt, ist das eine enorme Leistung. Diese Entwicklung immer mehr Menschen aus der Armut zu entwickeln und ihnen ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen, ist eine der Komponenten nachhaltiger Entwicklung, sorgt sie doch auch dafür, dass das Bevölkerungswachstum zurückgeht und die Lebensqualität und Entfaltungsmöglichkeit dort steigt. Was Deutschlands Rolle und die anderer Industrienationen betrifft, geht es um die Entwicklung nachhaltiger Industrien und Produkt-Dienstleistungssysteme, die den Ressourcenkonsum senken und den Klimawandel stoppen. Dies ist auch wieder eine gestalterische Aufgabe, die uns sehr viel an Innovation und Kreativität abfordern wird. Länder wie Deutschland haben enorme Strahlkraft. Wenn der unökologische westliche Lebensstil in der Vergangenheit ein Exportschlager gewesen sein soll, können ja vielleicht auch nachhaltige Lösungen in die Welt miteinander entworfen werden. Das bedeutet nicht mehr nur mehr Verdienst bei uns, sondern vor allem auch mehr wirtschaftliche Entwicklung in allen Regionen unserer Welt. Menschen könnten hoffentlich wieder da leben, wo ihr zu Hause ist und sie beheimatet sind, hoffentlich frei auf der Welt und selbst entscheidend. Wir sollten also alle Weichen auf Nachhaltigkeit stellen – Deutschland und Europa als Labor für nachhaltige Entwicklung in Kooperation und auf Augenhöhe mit den Regionen dieser Welt! Und: die angesprochene Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie hat sich zum Ziel gesetzt, nachhaltige Entwicklung in Deutschland, aber auch mit der Unterstützung Deutschlands anderenorts umzusetzen und sogar dafür zu sorgen, dass die Auswirkgen durch unser Handeln weniger negativ sondern mehr und mehr positiv auf die Entwicklungschancen anderer ausstrahlen. Sie sehen: Wer an dieser Umsetzung mitwirkt, hat einen guten Platz für Nachhaltigkeit gefunden!

Damit man sieht, wie hoch der eigene Ressourcenkonsum ist, haben Sie am WI einen Ressourcenrechner online gestellt. Ich persönlich komme auf 23 Tonnen, was ich schon nicht schlecht finde. Nachhaltiger Zielwert bis 2030: schlanke 17 Tonnen … Wie viel Verzicht bedeutet das in der Praxis? Und gilt dieser Wert auch für Menschen in anderen Weltregionen?

23 Tonnen ist schon unter dem Deutschen Durchschnitt mit etwa 30 Tonnen pro Kopf und Jahr – Glückwunsch! Bis 2030 sollten es 19 Tonnen werden und bis 2050 8 Tonnen. Es freut mich, dass Sie den Ressourcenrechner entdeckt und gleich ausprobiert haben. Wir sprechen schon seit Jahren von dem Ziel der „8-Tonnen-Gesellschaft“, und um das zu erreichen, haben wir unter anderem den Ressourcenrechner entwickelt. Der Rechner zeigt auf, welche Aktivitäten in ihrem Alltag wie viele Ressourcen benötigen und dient ebenso zur Datenerhebung wie als Werkzeug, um mit der Gesellschaft ins Gespräch zu kommen. Um eine 19/8-Tonnen-Pro-Kopf-Gesellschaft zu erreichen, müssen Ressourceneffizienz, -suffizienz und -konsistenz in Produkte übersetzt bzw. materialisiert werden. Da stehen wir völlig am Anfang und haben einen riesigen Gestaltungsraum, der sich uns öffnet. Wie sehen 8t- oder 1,5Grad Lebensstilprodukte in einer sozial differenzierten und vielfältigen Welt aus? Da gibt es viel zu tun! Bei allen neuen Technologien und sozialen Innovationsmöglichkeiten ist nachhaltige Gestaltung eigener Lebensvorstellungen mit den Menschen Grundlage einer systemischen Transformation. Dies eröffnet zugleich den Ländern Zugang zu Ressourcen und damit wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, die heute deutlich unter acht Tonnen pro Kopf konsumieren. Es ist also auch eine Frage von Fairness und Gerechtigkeit in und zwischen den Generationen der Welt.

Wie sehen Sie, wie sieht die wpn2030 die Zukunft der Gestaltung / Konstruktion (englisch: ‘Design’), der Produktion und des Vertriebes von Menschen genutzter Produkte? Lässt sich eine Entwicklung skizzieren – evtl. weg vom physischen Material, weg vom persönlichen Besitz, weg vom durch Werbung forcierten Konsum und vielleicht sogar weg von eitler, sinnleerer Formgebung?

Ich glaube, ein „weg“ allein reicht da nicht aus, denn wir müssen uns vor allem überlegen, wo wir denn „hin“ wollen und dazu kann Design aus meiner Sicht sehr viel beitragen. Designer*innen sind meines Erachtens sehr gut darin, Existierendes als veränderbar zu erkennen, bestehende Bedeutungen zu hinterfragen, ganze Systeme mitunter zu de- und rekonstruieren. Wir sollten das Thema Nachhaltigkeit nicht bloß mit dem erhobenen Zeigefinger in Verbindung bringen, sondern gerade auch mit einem Fingerzeig in Richtung Zukunft. Verzicht ist doch nur ein kleiner, aber wichtiger Ausschnitt der Möglichkeiten, die wir haben – Verzicht gehört zu unser aller Leben permanent dazu, wir sind also geübt! Zu einer Entscheidung gehört immer die Wahl zwischen Varianten – wähle ich frei eine oder eine Kombination davon, verzichte ich immer auf andere Möglichkeiten. Verzicht und freie Wahl sind also eng verknüpft und erweitern den Möglichkeitsraum, den wir haben. Damit zu spielen, wäre für GestalterInnen eine wichtige Option. Daher versuchen wir lieber Alternativen zu wählen und gleichzeitig auch Verzichten zu entwickeln und positive Zukünfte vorstellbar zu machen – und dafür braucht man Design.

Haben Sie ein Motto, das Sie in Ihrer Arbeit für wpn2030 leitet?

Nachhaltigkeit braucht wissenschaftlichen Diskurs. Dafür bieten wir eine Plattform.

Frau Professorin, vielen Dank, dass Sie Zeit für uns hatten!

Foto Header: Aktion Produktrecht Christian Tochtropp

DESIGNBOTE – wpn2030 – Die Plattform hat in ihren ersten drei Jahren beachtliche Ergebnisse vorgelegt