Seitdem das World Wide Web unser alltäglicher Begleiter ist, lesen wir immer wieder von neuesten Zahlen im Online-Vertrieb, die mit den Verkaufszahlen des stationären Handels verglichen werden. Die Tendenz scheint klar: Der Absatz über Webshops und E-Commerce erhöht sich ständig. Lokale Geschäfte haben es schwer, sich insbesondere gegen die großen Anbieter aus dem Internet zu behaupten. Die stationären Geschäfte sehen sich zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, ihren potenziellen Kunden möglichst rasch ein attraktives Bild über das Sortiment zu verschaffen und gleichzeitig Kaufanreize im Ladengeschäft zu generieren. Denn der Preis ist nicht alles! Was wäre besser für dieses Ziel geeignet als Visual Merchandising?
Zugegeben, Visual Merchandising ist nicht unbedingt der geläufigste Begriff, der einem in Bezug auf Verkaufsförderung in den Sinn kommt. Und die Berufsbezeichnung des Visual Merchandisers ist auch verhältnismäßig jung. Doch das Prinzip, was sich hinter dieser „visuellen Absatzförderung“ verbirgt, ist bei weitem keine Innovation. Denn Gestalter für Verkaufsräume und Schaufensterdekorateure gibt es schon lange. Auch die Erkenntnis, dass die Präsentation von Waren einen Einfluss auf die Kaufentscheidung eines Kunden haben kann, ist nicht wirklich neu. Doch Visual Merchandising geht einen Schritt weiter und verbindet die Marke und ihr Konzept mit dem Erlebnis und letztendlich der Kaufentscheidung des Kunden.
Visual Merchandising: Ein kurzer Ausflug in die Wahrnehmungspsychologie
Jeder aufmerksame Konsument hat sicherlich schon einmal die folgende Erfahrung gemacht. Nach einem grundsätzlich unspektakulären Lebensmitteleinkauf ist die Anzahl der Artikel, die zu Hause aus dem Einkaufskorb geräumt wird, ungleich höher als die Anzahl der eigentlich benötigten Produkte auf dem Einkaufszettel. Woran liegt das? Sind es die Sonderangebote, ist also der Preis entscheidend? Nun, vielleicht bedingt. Viel entscheidender ist jedoch, wie wir die zusätzlich eingekauften Produkte wahrgenommen haben und was die Präsentation der Waren bei uns ausgelöst hat.
Für die Erklärung wird ein verhaltenswissenschaftlicher Ansatz aus dem Marketing genutzt: Das SOR-Modell. Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass ein Mensch nur etwa ein bis fünf Prozent der visuellen Eindrücke aus seinem Umfeld wahrnimmt. Etwa eine Zehntelsekunde erinnern wir uns kurzzeitig an das Gesehene. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von selektiver Wahrnehmung. Wird der visuellen Information keine Bedeutsamkeit zugemessen, verschwindet sie sofort wieder aus unserem Gedächtnis. Das Ziel im Bereich Verkauf und Visual Merchandising muss also sein, die Aufmerksamkeit des Kunden länger zu fesseln, eine Erinnerung über das Langzeitgedächtnis zu erreichen oder gespeicherte Information abzurufen.
Das SOR-Modell lässt sich gut am Beispiel der Vorweihnachtszeit verdeutlichen. Die meisten Konsumenten schütteln den Kopf, wenn bereits Ende September die ersten Zimtsterne und Marzipankartoffeln neben Kürbis und Halloweenkostüm bereitstehen. Und doch hat sich wahrscheinlich jeder zweite schon mal beim Kauf ertappt. Laut SOR-Modell wirkt ein Stimulus (S), nehmen wir in diesem Fall den Zimtstern, auf einen Organismus (O), also den kopfschüttelnden Konsumenten ein. In der Zehntelsekunde seiner Wahrnehmung erinnert sich der Kunde an ein besonders schönes Weihnachtsfest in seiner Kindheit, wo er die ersten Zimtsterne von seiner Oma bekam. Die Assoziation führt laut Modell zu Response (R), also dem Kauf der Zimtsterne.
Wie funktioniert nun Visual Merchandising?
Mit diesem kurzen Einblick in die Wahrnehmungspsychologie werden die Zielsetzungen des Visual Merchandisings sehr deutlich. Waren oder auch Dienstleistungen müssen so präsentiert werden, dass sie einerseits die Aufmerksamkeit des Kunden auf sich ziehen. Andererseits sollen möglichst emotionale Assoziationen aus dem Langzeitgedächtnis hervorgerufen werden. Ein hübsch dekoriertes Schaufenster genügt dazu meist nicht. Die großen Sporthersteller Adidas, Puma und Nike erkannten diese Herausforderung bereits vor etwa 20 Jahren.
Betritt man beispielsweise einen Adidas-Store oder entdeckt einen anderen der großen Sporthersteller in einem Warengeschäft mit Shop-in-Shop-System, wird das Vorgehen schnell deutlich. Während früher Shirts, Laufschuhe und womöglich Funktionsunterwäsche fein säuberlich als getrennte Warengruppen angeordnet wurden, zeigt sich heute ein anderes Bild. Neben dem Aufbau der hübsch auf Präsentationsflächen unterschiedlicher Höhe dekorierten Laufschuh-Serie präsentiert sich die Schaufensterfigur im sportlichen Gewand.
Im Hintergrund zeigt ein Hochglanz-Banner die sportliche Mittzwanzigerin beim entspannten Workout mit zufriedenem Blick auf die Pulsuhr. Die angebotenen Waren sind nicht massenweise erhältlich. Jedem Produkt steht jeweils ein gewisser Platz bei der Präsentation zu. An der Schaufensterpuppe vorbei wandert der Blick ein Stückchen weiter auf die neue Walking-Funktionsjacke, lässig an einen Aufsteller gehängt und unauffällig indirekt mit einem kleinen Spot beleuchtet. Daneben prangt ein Schild mit den Worten „Neue Kollektion“ in schwungvoller Schriftart.
Visual Merchandising ist sozusagen die letzte Instanz des Marketingkonzepts eines Herstellers. Hier müssen Markenimage, neues Produkt und Präsentation eine Symbiose eingehen, die zunächst eine Emotion auslöst und letztendlich die gewünschte Wirkung beim Kunden erzielt: den Kauf. Visual Merchandising beginnt bereits mit der Dekoration des Schaufensters, mausert sich aber erst beim direkten Kontakt des Kunden mit dem Produkt zur Königsdisziplin. Mit Betreten des Point-of-Sale muss Visual Merchandising seine unmittelbare Wirkung beim Kunden entfalten. Die Präsentation der Waren folgt einem logischen Aufbau. Farben, Größen und Ergänzungsprodukte sind einleuchtend sortiert. Auch die Musik, Duftanreize oder eine geeignete Beleuchtung sind Teil des Visual Merchandisings.
Die Herausforderung im Visual Merchandising
Der Visual Merchandiser bedient ein weites Aufgabengebiet. Denn wie bereits erwähnt, eine hübsche Dekoration genügt heute nicht zur Verkaufsförderung. Visual Merchandising beginnt bereits beim Markenimage und der passenden Marketingstrategie. Zur Präsentation von Produkten müssen Trends und Entwicklungen ebenso reflektiert werden wie mögliche Ansprüche der gewünschten Zielgruppe. Bei der Gestaltung des Point-of-Sale muss sich die Ware selbst und ohne Verkäufer eindeutig erklären und zuordnen lassen können. Die Gestaltung der Verkaufsflächen soll die Aufmerksamkeit des Kunden erregen, neben dem Produkt auch den Hersteller glaubwürdig repräsentieren und nicht zuletzt Emotionen wecken.
Nach Umsetzung der Visual-Merchandising-Strategie gilt es, Verkaufszahlen zu prüfen und anhand derer die Effektivität der Maßnahmen zu reflektieren. Das Aufgabengebiet eines Visual Merchandisers ist weitreichender als auf den ersten Blick vermutet. Auch als Kunde sieht man seine Impulskäufe womöglich mit diesem Wissen in einem anderen Licht. Wie kam es nur, dass man zum neuen Laufschuh nun auch die passenden Socken und ein wirklich teures, aber immerhin atmungsaktives Funktionsshirt in den Schrank räumt? Möglicherweise hat da ein Visual Merchandiser einen richtig tollen Job gemacht…
Bild: pixabay
1 Kommentare
Linne
wehmütig denke ich an meine lehre beim kaufhof köln hohestraße zurück. anno 1970 hatteen wir opulente schaufenster gestaltet, die passanten machten vollbremsungen und strömten umgehend ins kaufhaus . in zeiten verödeter einkaufszonen mit nichtssagend leeren fassaden, zugebretterten schaufensterfronten oder lieblos hingestellen figuren beantwortet sich die frage nach dem ‘warum’ von selbst.