Seit Jahren zeigen PISA-Studien und OECD-Berichte für die Lesekompetenz deutscher Kinder große Defizite auf: 16,2 Prozent der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler verfügen nur über eine (sehr) schwache Lesekompetenz (PISA 2015). Rund 7,5 Millionen Erwachsene sind hierzulande laut LEO-Studie 2011 funktionale Analphabeten und nur jeder Fünfte in Deutschland liest regelmäßig ein Buch.
DESIGNBOTE fragte bei Aline Stenger, der Kampagnenmanagerin der Stiftung, nach.
Ich selbst gehöre noch zu einer Generation die unter der Bettdecke Berge von Büchern verschlungen hat. Wenn ich mich heute umschaue, dann sehe ich fast ausschließlich auf Displays von Smartphones blickende Köpfe. Meine Tage verbringe ich vor dem Display eines Laptops, Zeitungen lese ich ausschließlich online.
Vielleicht bin ich ja auch ein Fall für die Stiftung lesen?
“Wir haben häufig noch ein stark print- und eher buchzentriertes Verständnis vom “Lesen”. Jedoch ist Lesen mehr, wenn man den Vorgang an sich betrachtet. Wir entschlüsseln im Alltag fast ständig Inhalte, die uns in schriftlicher Form begegnen – auf der Müslipackung, am Fahrkartenautomat und bei Facebook. Dabei ist das, was unser Hirn tut, wenn wir lesen, grundsätzlich unabhängig davon, ob die selbe Information gedruckt oder auf einem Display bzw. Bildschirm vorliegt. Machen Sie sich also keine Sorgen: Ihr Leseverhalten leidet nicht oder wird weniger, nur weil Sie vor dem Display Ihres Laptops sitzen und eine Zeitung online nutzen.”
Da bin ich aber beruhigt! Doch warum die Kampagne? Drohen die Deutschen ein Volk von Analphabeten zu werden? Haben Sie Zahlen?
“Allein in der deutschsprachigen erwachsenen Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren haben mindestens 7,5 Millionen Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Das entspricht 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Erwachsenen. Dazu kommt eine mit Studien bisher nicht bezifferte Zahl von Personen mit Migrationshintergrund, die kein Deutsch sprechen und bereits in ihren Herkunftssprachen nicht oder kaum literalisiert Ωsind. Das Problem stellt sich nicht nur bei den Erwachsenen, sondern „wächst nach“: So finden sich laut der 2016 veröffentlichten letzten PISA-Studie unter den 15-jährigen 16,5 Prozent Jugendliche mit zu geringen Lesekompetenzen. Ähnliche Zahlen zeigen Leistungsmessungen in den Grundschulen. Kinder, die bereits in den ersten Jahren keinen oder nur schwer Zugang zum Lesen und Schreiben finden haben ein erhöhtes Risiko als Erwachsene zu funktionalen Analphabeten zu werden. Dieses Risiko ist besonders hoch, wenn die Kinder in lese- und bildungsfernen Familien aufwachsen, weil ihnen die Eltern nur wenig Unterstützung bieten können, selbst keine Lesevorbilder sind und kaum lesefördernde Impulse setzen, etwa durch Vorlesen und Erzählen. Deshalb die Kampagne, um dafür zu sensibilisieren, dass wir diejenigen, deren Herkunft sie nicht selbstverständlich zu Lesern und Leserinnen werden lässt, von anderer Seite fördern und unterstützen müssen.”
Welche Gründe identifizieren Sie für Leseunlust und Dyslexie? Haben Schule und Elternhaus versagt?
“Leseunlust und Dyslexie sind zwei verschiedene Dinge. ‘Dyslexie’, also Lese-Rechtschreib-Schwäche, ist eine umschriebene (und diagnostizierbare) Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, für die Experten u. a. genetische und neurologische Ursachen verantwortlich machen. Danach bedingt eine geringere Vernetztheit der zuständigen Bereiche im Gehirn, dass Kinder mit Dyslexie z. B. Schwierigkeiten haben zu erkennen, dass sich zwei Wörter reimen. Es gibt keine stabile Verbindung zwischen Lauten und Buchstaben. Das macht es schwer, überhaupt richtig lesen und schreiben zu lernen – unabhängig davon, ob ein Kind gern lesen möchte oder nicht.
Ganz anders die ‘Leseunlust’. Die Motivation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zum Lesen hängt stark davon ab wie intensiv sie bereits vor dem Schuleintritt im familiären Umfeld geprägt und gefördert worden sind. Damit ist nicht gemeint, dass Kinder schon vor der ersten Klasse lesen lernen. Vielmehr geht es darum, das Lesen ganz selbstverständlich in den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen zu verankern. Das geschieht, wenn Eltern ganz selbstverständlich lesen. Ein zentraler Schlüssel ist das Vorlesen und Erzählen als Tor zu spannenden Geschichten, interessanten Figuren und Informationen über Dinge, die Kinder begeistern. Kinder, denen Eltern nicht oder nur selten vorlesen, haben messbar seltener Spaß am Lesen. Sie lesen weniger häufig und intensiv. Doch das Vorlesen zahlt nicht nur auf die Lesefreude und das Leseverhalten ein. Auch bessere Schulnoten, ein hohes Maß an Empathie, Gerechtigkeitssinn und andere soziale Kompetenzen zeichnen Kinder aus, denen regelmäßig vorgelesen wurde. Sie haben ein größeres Repertoire an Weltwissen, Rollen- und Handlungsmodellen, erfahren lesend Situationen und Herausforderungen, die sie in ihrem jungen Leben noch gar nicht selbst erlebt haben – aber unmittelbar anwenden können.
Eltern, die nicht oder nur selten vorlesen „versagen“ natürlich nicht. Allerdings nutzen sie eine höchst effektive Möglichkeit nicht, ihren Kindern den Zugang zu einer der wichtigsten Grundkompetenzen für ihr späteres Leben zu erleichtern. Mehr noch: Ihnen selbst entgeht eine Menge, denn für Eltern ist das Vorlesen ein Weg, die Bindung zu ihren Kindern zu stärken – und es macht ihnen eine Menge Spaß.”
Haben vielleicht visuelle Medien und Symbole den geschriebenen Text nicht längst ersetzt? Was ist noch zu retten?
“Dieses Szenario scheint angesichts der technischen Entwicklung und der Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz naheliegend. Bei Licht betrachtet lässt sich das aber nicht halten. Mit Sprachein- und -ausgabe oder Symbolen allein ist z. B. keine erfolgreiche Stellenbewerbung vorstellbar. Ab einer gewissen Komplexität lassen sich Inhalte nicht einfach visualisieren bzw. symbolisch darstellen – oder gar vorlesen. So ist die große Welt der Geschichten und Romane kaum zu ersetzen durch Visualisierung oder Hörfassungen. Dafür sorgen schon das seit vielen Jahren stabile Interesse der Leserinnen und Leser und die gleichbleibenden Umsätze auf dem Buchmarkt. Auch Zeitungs- und Zeitschriftenverlage setzen nicht auf Visuals, sondern investieren in E-Papers und andere mobil nutzbare Formate. So werden vor allem von jungen Zielgruppen Inhalte zwar häufig nicht mehr auf Papier, aber über die Apps und Online-Angebote der Verlage gelesen.”
Welche Art von Lesestoff empfiehlt die Stiftung Lesen für welche Altersgruppen? Kann sich die Stiftung Lesen auf Partner (wie z.B. Verlage) stützen?
“Wir empfehlen eigentlich jede Art von Lesestoff. Das „gute“ Buch gibt es nicht! Es gibt immer nur das Buch, das für ein bestimmtes Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt genau das richtige ist. Und um dieses Buch zu finden, sollten Eltern ihre Kinder immer mit einbeziehen und bei der Auswahl des Lesestoffs, stets die Interessen der Kinder berücksichtigen. Um jedoch ein wenig Hilfestellung im Dschungel der Kinderbuchliteratur zu geben finden ratlose Eltern/Vorleser in unserer Mediendatenbank viele tollen Lese- und Medienempfehlungen. In unserer täglichen Arbeit und auch bei den Leseempfehlungen arbeiten wir selbstverständlich mit einer Vielzahl von Verlagen und Partnern zusammen.”
Welchen Einfluss haben die allgegenwärtigen digitalen Medien auf das Leseverhalten?
“Nach allem, was wir aus Studien wissen, nur einen geringen. Der Anteil der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die regelmäßig mehrmals in der Woche in gedruckten Büchern lesen, ist seit Beginn der systematischen Erhebungen Ende der 90er Jahre mit geringfügigen Schwankungen stabil geblieben. Das zeigt, dass diejenigen, die gern und häufig lesen, darin durch digitale Angebote, die sie ja parallel häufig nutzen, nicht vom Lesen abgehalten werden. Digitalisierung geht in diesem Sinne nicht auf Kosten des Lesens.
Veränderungen gibt es in Lesestrategien und zum Teil auch in den Anforderungen. Anders als beim Lesen eines längeren Textes in einem Buch, in einer Zeitung oder auf einem E-Reader besitzt die Lektüre des gleichen Textes auf dem Smartphone oder einem Tablet ein höheres Ablenkungspotenzial. Push-Nachrichten oder Messenger-Dienste verlocken zum – wenn auch kurzen – Blick auf konkurrierende Inhalte (die im Übrigen in der Regel auch Lesen erfordern). Damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Lesefluss unterbrochen wird, auf diesen multifunktionalen Trägermedien höher.
Interessant ist dabei, dass Wissenschaftsverlage, deren Fachbeiträge von ihren Lesern und Leserinnen ein Höchstmaß an Konzentration verlangen, ihre Fachzeitschriften und Publikationen zunehmend nur noch digital zur Verfügung stellen. Die Möglichkeit der Ablenkung bedeutet also nicht, dass sie auch tatsächlich eine Beeinträchtigung darstellen muss.”
An wen richtet sich die aktuelle Kampagne und wo soll sie sichtbar werden? Kann sie die leseunwilligen bzw. des Lesens unfähigen Bevölkerungsgruppen erreichen?
Unsere aktuelle Kampagne ergänzt die bestehende Strategie der Stiftung Lesen: Mit dem Bundesweiten Vorlesetag richten wir uns an Eltern und kleine Kinder, bei der Aktion „Ich schenk dir eine Geschichte“ zum Welttag des Buches sind heranwachsende Selbstleser unsere Zielgruppe und mit der neuen Kampagne möchten wir das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung des Lesens und die Leseförderung stärken und wenden uns gezielt an künftige Partner, Spender, Unterstützer sowie Ehrenamtliche.”
Was hat Sie an der aktuellen Kampagne – die ja verschiedene Gruppen erreichen soll – überzeugt? Können Sie Bildsprache und Betextung kommentieren?
“Die Motive der Kampagne sind im besten Sinne plakativ. Sie inszenieren das Produkt auf ästhetische und emotional berührende Weise. Unser Ziel war es vor allem, dass sie unmittelbar verständlich sind und das Problem sowie der Lösungsansatz in einem Bild dargestellt werden.”
Und last but not least: Aus welchen Quellen finanziert sich die Stiftung Lesen?
“Die Stiftung Lesen selbst hat kein nennenswertes Stiftungskapital. Als operative Stiftung führt sie in enger Zusammenarbeit mit Bundes- und Landesministerien, wissenschaftlichen Einrichtungen, Stiftungen, Verbänden und Unternehmen breitenwirksame Programme sowie Forschungs- und Modellprojekte durch. Die Finanzierung der Programme und Projekte erfolgt entsprechend über die Mitglieder im Stifterrat und unsere Projektpartner aus dem öffentlichen und privaten Sektor.”
Über die Stiftung Lesen:
Die Stiftung Lesen ging 1988 aus dem 1977 gegründeten Verein Deutsche Lesegesellschaft hervor. Sie bekennt sich zu den Grundsätzen Guter Stiftungspraxis des Bundesverbands Deutscher Stiftungen und steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten.
Lesen öffnet Türen
Familiäre Vorlesesituation
Intergeneratives Lesen
Bildquelle: Stiftung Lesen
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