Der Surrealismus zählt zu den einflussreichsten Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts. In seinen traumhaften Bildwelten hatten Alltagsobjekte eine zentrale Bedeutung, sie wurden verfremdet, ironisiert oder zu seltsamen Zwitterwesen zusammengesetzt. So entstanden einige Schlüsselwerke moderner Kunst, darunter Marcel Duchamps »Fahrrad-Rad« (1913) oder Salvador Dalís »Hummertelefon« (1936). Doch der Surrealismus gab umgekehrt auch dem Design wichtige Impulse. Ab dem 28. September 2019 präsentiert das Vitra Design Museum eine große Ausstellung, die den Dialog zwischen Surrealismus und Design umfassend untersucht.
Daher wird zum ersten Mal gezeigt, wie stark der Surrealismus das Design der letzten 100 Jahre beeinflusst hat – von Möbeln und Interieurs bis hin zu Grafik, Mode, Film und Fotografie. Die Ausstellung umfasst unter anderem Werke von Gae Aulenti, Björk, Achille Castiglioni, Giorgio de Chirico, Le Corbusier, Salvador Dalí, Dunne & Raby, Marcel Duchamp, Max Ernst, Ray Eames, Front, Friedrich Kiesler, Shiro Kuramata, René Magritte, Carlo Mollino, Isamu Noguchi, Meret Oppenheim, Man Ray, Iris van Herpen und vielen anderen.
Der Surrealismus wurde 1924 von André Breton mit dem ersten surrealistischen Manifest begründet und entwickelte sich schnell zu einer internationalen Bewegung, der zahlreiche Schriftsteller, Künstler und Filmemacher angehörten. Das Unterbewusstsein, Träume, Obsessionen, der Zufall und das Irrationale waren nur einige der Quellen, aus denen die Surrealisten eine neue künstlerische Realität erschufen. Ab den 1930er Jahren begannen ihre Ideen auch das Design zu beeinflussen, und ab den 1940er Jahren wurde der Surrealismus zu einem wahren Trend, der Mode, Möbel und Fotografie prägte und es bis auf die Zeitschriftencover von »Harper’s Bazaar« und »Vogue« schaffte. Bis heute liefert der Surrealismus Designern mannigfaltige Anregungen, sei es mit den Motiven seiner phantastischen Bildwelt, seiner subversiven Herangehensweise oder seinem Interesse an der menschlichen Psyche.
Die Ausstellung »Objekte der Begierde« stellt Kunstwerke des Surrealismus und Designobjekte einander so gegenüber, dass die faszinierenden Parallelen und Querbezüge deutlich werden. Unter den hochkarätigen Leihgaben aus dem Bereich der bildenden Kunst sind unter anderem die Gemälde »Das rote Modell« (1947 oder 1948) von René Magritte, Salvador Dalís »Riesige fliegende Mokkatasse mit unerklärlicher Fortsetzung von fünf Metern Länge« (1944/45) sowie »Wald, Vögel und Sonne« (1927) von Max Ernst, aber auch Readymades wie Marcel Duchamps »Flaschentrockner« (1914) oder »Geschenk« (1921) von Man Ray. Die Arbeiten aus dem Design reichen von Werken aus den 1930er Jahren – etwa Meret Oppenheims Tisch »Traccia« (1939) – bis hin zu heutigen Beispielen, darunter Modeentwürfe von Iris van Herpen, Objekte von Front, Konstantin Grcic oder Odd Matter sowie Projekte des Critical Design, die neue Technologien oder Geschlechterrollen auf subversive Weise hinterfragen. Sie alle zeigen, dass es im Design der letzten 100 Jahre nicht nur um Funktion und Technik geht, sondern auch um die versteckte Realität hinter den Dingen, um verborgene Träume, Mythen und Obsessionen – eben um das Sur-Reale.
Den Auftakt der Ausstellung bildet eine Bestandsaufnahme des Surrealismus von den 1920er bis zu den 1950er Jahren, bei der die Bedeutung, die das Design für die Entwicklung der Bewegung spielte, deutlich wird. Inspiriert von Giorgio de Chiricos »metaphysischer Malerei« versuchten Künstler wie René Magritte und Salvador Dalí, die Aura und die geheimnisvolle Seite von Alltagsgegenständen einzufangen. Gleichzeitig – und stark beeinflusst von Marcel Duchamps Readymades – experimentierten Künstlerinnen und Künstler wie Meret Oppenheim oder Man Ray mit einer völlig neuen Form der Skulptur, indem sie aus gefundenen Materialien und Gegenständen absurde Objekte schufen. Seit den 1930er Jahren hatte die Suche nach dem erzählerischen Potenzial von Objekten zunehmend Einfluss auf Designer und Architekten wie zum Beispiel Le Corbusier. Dies zeigt sich etwa in dem Pariser Appartement, das er von 1929 bis 1931 für Carlos de Beistegui entwarf, einen der wichtigsten Sammler surrealistischer Kunst. Als viele Protagonisten des Surrealismus nach dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und der Besetzung Frankreichs in die Vereinigten Staaten emigrieren mussten, begann die Bewegung auch jenseits des Atlantiks Designer zu inspirieren, darunter Ray Eames und Isamu Noguchi. 1942 setzte Friedrich Kiesler surrealistische Raumvorstellungen bei der Ausstattung von Peggy Guggenheims Galerie Art of This Century in Manhattan in ein Interieur um. Die biomorphen Formen, die Kiesler den Möbeln der Galerie verlieh, übten großen Einfluss auf die organische Sprache des amerikanischen Nachkriegsdesigns aus.
Der zweite Teil der Ausstellung untersucht, wie die Surrealisten den Archetypen von Alltagsobjekten auf den Grund gingen und die Bedeutungscodes unserer vermeintlich vertrauten Welt untergruben. Nach 1945 wendeten viele Designer ähnliche Strategien an, darunter Achille Castiglioni, dessen Entwürfe oft auf der Idee des Readymades basierten. Viele Entwürfe des italienischen Radical Design wiederum, darunter Piero Gilardis »I Sassi« (1967/68) oder das Sitzobjekt »Capitello« (1971) von Studio65, erinnern an die rätselhaften, dekontextualisierten Objektfragmente etwa bei Salvador Dalí oder Giorgio de Chirico. Auch surrealistische Künstler wie Man Ray oder Roberto Matta nutzten in den 1960er und 1970er Jahren die Möglichkeiten neuer Kunststoffe, um surrealistische Motive in skulpturale Sitzobjekte umzuwandeln. Auf Dekontextualisierung und Entfremdung des scheinbar Gewöhnlichen beruhen auch jüngere Entwürfe in diesem Ausstellungsteil, wie die »Horse Lamp« (2006) des Designerinnenduos Front oder »Coathangerbrush« (1992) von Konstantin Grcic, der Marcel Duchamp als wichtige Inspirationquelle für sein Schaffen benennt.
Der dritte Teil der Ausstellung widmet sich den Themen Liebe, Erotik und Sexualität, die im Surrealismus eine zentrale Rolle spielten. In der Nachkriegszeit fanden diese Themen Eingang in die Innenarchitektur, was sich in den sinnlichen Interieurs und Möbelstücken des italienischen Designers Carlo Mollino oder in Salvador Dalís »Mae West Lips Sofa« (1938) zeigt, das Studio65 später mit seinem berühmten lippenförmigen Sofa »Bocca« (1970) adaptierte. Besonders deutlich werden die Schnittstellen zwischen Surrealismus und Design in der Mode, für die Salvador Dalí eine Vorreiterrolle spielte. Schon in den 1930er Jahren arbeitete er mit der Modelegende Elsa Schiaparelli zusammen und gestaltete zahlreiche Cover für Modemagazine sowie Modewerbung und Stoffmuster für Textilunternehmen. Während die Werke männlicher Surrealisten oft von Geschlechterklischees durchzogen sind, zeichnen sich die Arbeiten vieler Surrealistinnen durch eine subtilere Auseinandersetzung mit diesen Themen aus, was sie zu einer wichtigen Referenz für heutige Designerinnen und Designer macht. Zu den Werken in der Ausstellung, an denen dies deutlich wird, gehören Lee Millers subversive Modefotografien, Claude Cahuns androgyne Selbstporträts und Mimi Parents Assemblage »César« (o. D.). Doch auch die dunklen Seiten der Sexualität spielten eine wichtige Rolle im Surrealismus, nicht zuletzt inspiriert von Sigmund Freuds Psychoanalyse, der Liebe und Erotik eng verwoben mit Gegenkräften wie Gewalt, Unterdrückung und Zerstörung sah. Die Ausstellung verdeutlicht dies unter anderem mit Arbeiten von Hans Bellmer oder Wolfgang Paalen und zeigt, wie auch diese Themen Einzug in das Design fanden, etwa in Objekten von Gaetano Pesce, Maarten Baas oder Studio Wieki Somers. Die Teekanne »High Tea Pot« (2003) von Somers hat die Form eines Schweineschädels und wird mit einem Bisamrattenfell überzogen – sie untergräbt damit unsere Vorstellung des Gemütlichen auf ähnliche Weise wie einige Werke von Meret Oppenheim, einer der führenden Surrealistinnen.
Der letzte Teil der Ausstellung befasst sich mit dem, was der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss als »das wilde Denken« bezeichnete: das Interesse am Archaischen, am Zufall und am Irrationalen, das sich in der Begeisterung der Surrealisten für sogenannte »primitive Kunst« ebenso zeigte wie an ihren Experimenten mit Materialien und Techniken, etwa der »automatischen Malerei«. In der Kunst führte dies zu Bildwelten mit einer ganz eigenen formalen Logik, die oft durch wuchernde oder zerfließende Formen geprägt ist, etwa in den Gemälden von Max Ernst oder Yves Tanguy. Im Design sind vergleichbare Motive vor allem ab den 1980er Jahren zu beobachten, als experimentelle Ansätze an Bedeutung gewinnen und Designer die Formen und Typologien von Objekten zu dekonstruieren beginnen. Ein prägnantes Beispiel dafür ist Robert Stadlers Sitzobjekt »Pools & Pouf« (2004), in dem ein klassisches Chesterfield Sofa – wie die Objekte in den Gemälden von Salvador Dalí – zu zerschmelzen scheint. Ingo Maurers scheinbar explodierende Leuchte »Porca Miseria!« (1994) oder Nacho Carbonells »Cocoon 8« (2015), ein Hybrid aus Tisch und Lampe, zeigen ähnliche Ansätze. Ganz konkrete Bezüge auf surrealistische Bildmotive finden sich im Videoclip zu Björks Lied »Hidden Place« (2010), in dem der Sängerin eine Träne über das Gesicht fließt – ein Verweis auf Man Rays berühmte Fotografie »Die Tränen« (ca. 1932). Gerade Projekte des so genannten Critical Design greifen dezidiert die subversive, gesellschaftskritische Agenda des Surrealismus auf, etwa Dunne & Rabys »Designs for an overpopulated planet: The Foragers« (2009). Dabei handelt es sich um fiktive Objekte für eine dystopische Zukunft, die sich zwischen Kunst und Design, Realität und Fiktion bewegen.
Diese Beispiele zeigen, wie aktuell der Dialog zwischen Surrealismus und Design bis heute ist. Der Surrealismus hat Designer dazu ermutigt, nach der Realität hinter dem Sichtbaren zu fragen und Dinge zu gestalten, die Widerstand leisten, mit Gewohnheiten brechen und aus dem Alltag ausscheren. Er hat das Design der Nachkriegszeit aus dem Korsett des Funktionalismus befreit und unseren Blick von der Form der Dinge auf ihre oft versteckten Botschaften gelenkt.
Die Ausstellung »Objekte der Begierde« untersucht dieses Phänomen zum ersten Mal – und zeigt damit einen der folgenreichsten Dialoge zwischen Kunst und Design der letzten 100 Jahre.
Vitra Design Museum
Charles-Eames-Str. 2
D-79576 Weil am Rhein
Öffnungszeiten
Täglich: 10 – 18 Uhr,
am 24.12. 10 – 14 Uhr.
Das Museum ist an allen Sonn- und Feiertagen geöffnet.
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