Die Zukunft der Markenbildung ist der Tod des Brandings wie wir es kennen. Die Entwicklung oder Anpassung eines Brandings wird heutzutage mehr von Algorithmen, individuellen Bedürfnissen, gesellschaftlichen Bewegungen und Flexibilität bestimmt als je zuvor. Wir müssen anfangen zu lernen, was wirklich zählt. Und das am besten jeden Tag.

Die Geschichte des Brandings ist so alt wie die Menschheit. Schon vor rund 400.000 Jahren ging es bereits darum, sich und die eigene Marke bei den Zeitgenossen und über Generationen hinweg zu manifestieren. Die ersten Höhlenmalereien waren nichts anders als eine Urform der Markenbildung, wie wir sie heute kennen. Auch in der Antike und dem Mittelalter ließ man sich nicht davon abbringen, komplexe Ansichten und Haltungen mithilfe von Geschichten, Poesie, Emotionen oder der richtigen Atmosphäre greifbar zu machen — mit demselben Grund: möglichst viele Menschen von sich zu überzeugen.

Und im Jahr 2020? So schnell und genau wurden Informationen noch nie verarbeitet. Trotzdem klammern wir uns an Konsistenz und Einheitlichkeit. Traditionelle Marken wie Coca-Cola, McDonald’s, Apple oder Disney haben enorme Anstrengungen unternommen, ihr Branding konsequent zu präsentieren. Das hat für physische Kontaktpunkte auch immer Sinn gemacht — ein McDonald’s Restaurant sollte in Kalifornien genauso in Erscheinung treten und erlebt werden wie in Berlin oder Shanghai.

In einer digitalen Welt hingegen ist ein schnell wiedererkennbares Branding schon lange nicht mehr der wesentlichste Punkt, um mit einer Marke zu interagieren oder ihr zu folgen. Sie muss erlebbar und echt sein. Sie muss eine passende und individuelle Geschichte erzählen und eine glaubhafte Haltung vermitteln. Sie muss von „einer“ zu „meiner“ Marke werden. Ist das nicht der Fall, hat sie keine Relevanz und wird ganz einfach vergessen. Oder noch schlimmer: einfach egal.

Was ist eigentlich noch wichtig, wenn alles zu viel wird?

Eine Vielzahl an Kanälen, blitzschnelle Kommunikation, sofortige und dauerhafte Abrufbarkeit von Inhalten sowie der Wunsch nach Individualität und Aktualität beherrschen unseren Alltag.  Auch das Überangebot am Markt, welches 24/7 zur Verfügung steht, sorgt für immer weniger Markentreue — gerade die Generation der Digital Natives verbindet sich nur noch selten mit Marken. Wenn nicht „hier“, dann halt „da“. Ganz einfach! Die daraus entstehende „On-demand Culture“ treibt den Geschwindigkeitsdruck in der Wirtschaft wiederum an. Alles muss sofort da sein — auf Abruf. Ein geschlossener Kreislauf, bestehend aus immer spontaner werdender Nachfrage und einem Überangebot ohne Übersicht, ist die Folge. Hier stellt sich schlussendlich die Frage, wie eine Marke in diesem abstrusen Szenario überhaupt noch eine Chance hat, um von den Menschen wahrgenommen zu werden. Wie kann sie begeistern und wie schafft sie es, sich mit ihnen zu verbinden?

Mit einem flippigen Logo, das an allen Touchpoints den gleichen Regeln folgt? Eher nicht. Hier spielen andere Aspekte eine größere Rolle.  Vielmehr sollten die Menschen und ihre individuellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt gerückt und bedient werden. Damit geht vieles einher und kann nicht mehr ausreichend über veraltete Ansätze gelöst werden.

Was wäre also, wenn wir damit beginnen, traditionelle Markenbestandteile viel stärker zu manipulieren? Wenn wir vergessen würden, was wir über Markenbildung wissen — oder zu wissen glauben. Wie weit können wir dann gehen? Im Folgenden drei Thesen.

These 1: Branding is testing

Marken müssen agil und offen denken und gleichzeitig testen. Und das so früh wie möglich. Hier spielen die richtigen Daten eine große Rolle. Sie können helfen, die Zielgruppe besser zu analysieren und zu verstehen. Noch viel zu oft wird hier auf konstruierte Ansätze wie fiktive Personas gesetzt. Stattdessen sollte es darum gehen, individuelle Erlebnisse für echte Menschen zu schaffen. Denn Bedürfnisse wollen passend erfüllt werden, nicht irgendwie. Und das ist nur möglich, wenn man sich schon früh im Prozess mit Daten befasst.

Credits: Steffen Schmid — https://www.steffenschmid.net

Allerdings betrachtet der Großteil der Konsumenten in Deutschland die Erhebung von Daten immer noch sehr kritisch. Der eigene Schutz vor „Manipulation“ und eine gehörige Portion „Misstrauen“ gehören zum Alltag. Dies wird sich zunehmend verändern. Bis dahin können über qualitative Analysen, wie zum Beispiel Tiefeninterviews, gute Grundsteine gelegt werden, die Impulse für Markenwerte und  -eigenschaften geben können. Möchte man einen Schritt weiter gehen, bindet man echte Nutzer über kollaborative Ansätze direkt in diese Phasen ein — so oft wie möglich. Es geht hier schließlich um die Menschen, die am Ende ausschlaggebend für den Erfolg einer Marke sind. Die daraus entstehenden Leitbilder können über fest eingeplante Tests in der eigenen Zielgruppe regelmäßig hinterfragt werden. Auch hier entstehen wiederum Daten, die in den weiteren Verlauf des Branding-Prozesses eingearbeitet werden sollten. Denn ständiges Hinterfragen, um von Beginn an zu lernen ist Pflicht, nicht die Kür.

These 2: Wer heute noch auf Einheitlichkeit setzt, verliert das Rennen

Schauen wir uns zum Beispiel das Brand Design an, das ebenfalls einen wichtigen Aspekt des gesamten Prozesses darstellt. Was ist hier noch wichtig? Hat ein allgegenwärtiges Logo in einer digitalen Welt, in der jeder unterschiedliche Endgeräte und unterschiedliche Vorlieben hat, wirklich noch einen Wert?  Hier gehört Flexibilität genauso zum Branding-Prozess dazu wie die zuvor erwähnten Daten.

Mit Blick auf Big Player wie Google, Spotify, Pinterest, Uber oder Airbnb, wird klar, dass sich ihre Logos nicht wirklich stark differenzieren. Jeder dieser digitalen Giganten hat sich für eine simple Sans-Serif entschieden. Diese Unternehmen haben verstanden, dass sie nicht mehr über ihr Logo definiert werden. Sie denken nutzerzentriert. Es sind ihre Produkte oder Dienstleistungen, die für die Endverbraucher den Unterschied machen.

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Auch Social-Media-Plattformen überarbeiten und verändern ihre Logos in häufigen Zyklen. Und das stört erstaunlicherweise niemanden. Das Erscheinungsbild ist grundsätzlich ein wichtiges Element, aber es erfüllt eben nur noch einen praktikablen Zweck – nämlich immer dann, wenn bereits eine Verbindung zwischen Marke und Endverbraucher besteht. Wenn die Zukunft des Brandings also beweglich ist, damit eigene Produkte und die Nutzer im Fokus stehen, ist die visuelle Stringenz im Brand Design nicht mehr so ausschlaggebend wie oft behauptet. Denn ein Logo allein ist keine Marke und eine Marke besteht nicht nur aus Farben, Typografie oder einem Logo. Zeitgemäße Markenbildung sollten keinen starren Regeln folgen. Dabei spielt ein flexibles Brand Design eine zentrale Rolle. Wir können Farben, Schriften oder Logos so weit wie möglich abwandeln und auf individuelle Vorlieben sowie das Verhalten von echten Nutzern anpassen. Wir müssen auch diesen Teil des Branding-Prozesses dazu nutzen, um täglich neu zu lernen. Denn Individualität im Erscheinungsbild, eine starke und passende Geschichte, sowie ein kontinuierlicher Lernprozess machen Marken attraktiv und schenken ihnen Relevanz.

These 3: Story first

Wenn die visuelle Stringenz nun nicht mehr so wichtig ist, was soll dann dafür sorgen, dass man sich an eine Marke erinnert? Ganz simpel. Eine gute Geschichte. Denn jede große Idee, jede legendäre Marke beginnt so. Sie stellt heute die Verbindung, den Kleber, zwischen Menschen und Marken dar. Sie sorgt dafür, eine Marke zu emotionalisieren oder mit den Menschen zu verbinden.

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Credits: Fotograf: Yotam Schwartz – www.yotamshwartz.com für freistil by Rolf Benz – www.freistil-rolfbenz.com

Wenn die Geschichte stark genug ist und sich ein Unternehmen auf bedürfnisorientierte Werte konzentriert, können die Produkte einer Marke Teil des Lebens der Menschen werden. Wenn es Marken gelingt, einen echten Mehrwert im Leben der Kunden darzustellen, ist es das, was sich am Ende in den Köpfen der Menschen manifestiert. Das, was sie glauben und weitererzählen.

Hier schließt sich der Kreis. Eine gute Geschichte in Verbindung mit Daten ermöglicht es Produkten die nötige Relevanz zu verleihen. Diese Geschichte, die von einer Haltung und schlussendlich von Einzigartigkeit handelt, hat heutzutage natürlich auch den Anspruch, individuell erzählt zu werden. Ein guter Erzähler weiß, wie er seine Geschichten an sein Publikum anpasst. Dafür muss er seine Zuhörer allerdings kennen. Je genauer, desto besser. Und die digitale Welt besteht aus unzähligen Bühnen. Jede in einem anderen Umfeld, jede in einem anderen Kontext. Die richtige Geschichte zu erzählen ist nicht leicht. Und genau deshalb sind Daten, regelmäßige Tests und die fortlaufende Einbindung der Endverbraucher so wichtig. Denn sie erzählen einen wichtigen Teil dieser Geschichte — der das Herz einer Marke schlussendlich am Leben hält.

Über den Autor

Dennis Dünnwald ist Executive Creative Director von oddity jungle und hat nach seinem Studium (Kommunikationsdesign) zunächst für Agenturen wie Scholz & Friends und Razorfish gearbeitet, bevor er 2014 zu oddity wechselte. Dort leitet er seit mehr als sechs Jahren die Kreation am Berliner und Kölner Standort. Zu den Kunden zählen The Walt Disney Company, Krombacher, freistil, 4711, Avène, Babor und Kärcher.

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