Obwohl die Technologie der variablen Fonts bereits vor rund drei Jahren im Markt eingeführt wurde, ist sie einer nicht ganz kleinen Anzahl Kreativer noch nicht vertraut: In der kürzlich erneut durchgeführten und inzwischen recht bekannten Umfrage von Mary Catherine Pflug zu den Kaufgewohnheiten von Schriften (“Font Purchasing Habits Survey“) gab ein Drittel der dort befragten Designer an, dass ihnen die Vorteile der variablen Schriften nicht bekannt seien. Und 39 Prozent hatten keine Ahnung, was variable Schriften überhaupt sind. Eine ziemlich ernüchternde Statistik für uns Schriftgestalter, denn wir sind alle überzeugt und begeistert von den Möglichkeiten, die diese Technologie uns eröffnet.

variable fonts

Phil Garnham, Creative Type Director bei Monotype

Mit variablen Fonts ist (fast) alles möglich

Einer der Kernaspekte variabler Schriften ist ihre enorme Leistungsfähigkeit und die damit einhergehende Tatsache, dass Marken mit ihnen völlig neue Möglichkeiten für ihre visuelle Kommunikation erhalten. Und weil wir Designer glauben, dass Schrift der Eckpfeiler jedes Corporate Designs ist, betrachten wir das als eine sehr gute Nachricht. Denn die Technologie verleiht der Schrift mehr Kraft und Energie, um die Identität einer Marke zu vermitteln.

Ich bin überzeugt, dass mit variablen Schriften eine neue Ära im Schriftdesign beginnt, denn mit ihnen ist (fast) alles möglich. Etwa weil eine variable Schrift eine einzelne, optimierte Schriftdatei ist, die sich aber wie eine komplette Schriftfamilie verhält und damit eine breite Palette von Stilen bereitstellen kann. Wenn eine traditionelle Schriftfamilie beispielsweise die Strichstärken Thin, Light, Regular, Bold und Black anbietet, kann diese als variable Schrift nicht nur alle diese Gewichtungen in einer Datei enthalten, sondern auch zig Zwischen-Strichstärken – und das in feinen Abstufungen. Dabei bleibt die Dateigröße überraschend klein, denn eine Variable Font-Datei enthält nicht die Beschreibung aller Stilzustände, sondern lediglich die Regeln, wie ein gewünschter Zustand entstehen soll.

Einen spielerischen Einstig in die Variable-Font-Technologie bietet diese Demo-Site von FontSmith, eine Foundry, die Monotype Anfang 2020 übernommen hat. Dort lassen sich mehrere Schriftfamilien per Schieberegler und mit eigenen Texten ausprobieren.

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Die Stärke der variablen Font-Technik zeigt sich vor allem bei Großfamilien, wie beispielsweise der Universität Next, die 7 Strichstärken (Hairline bis Black), 3 Breiten (Condensed, Normal, Extended) und die dazugehörigen Kursiven bietet, also aus 7×3+21 = 42 Fonts besteht

 

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Nutzer der OpenType-Schrift müssen also 42 Font-Dateien erwerben, verwalten, aktivieren und im Schriftmenü finden. Die gesamte Familie hat übrigens ein Datenvolumen von 4 MB. Variable Font bietet hier eine echte Erleichterung, denn …

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…alle 42 Schnitte der klassischen Univers Next sind nun in einer einzigen Datei untergebracht, die nur 948 KB groß ist. Doch damit nicht genug, denn …

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… tatsächlich liefert die Variable Font-Datei fast 80.000 Varianten der Univers Next aus, denn die Strichstärken-Achse verfügt über 600 statt „nur“ 7 Stufen, die Breite bietet 65 Abstufungen (statt 3) und die Kursiven sind natürlich auch enthalten. Fazit: variable Fonts sind kompakt, leicht zu handhaben und können über 1000 mal mehr Schnitte enthalten, was die typografische Freiheit enorm beflügelt.

Variable Fonts bieten Marken ein flexibles typografisches Werkzeug

Die Erfahrung zeigt, dass Unternehmen und bekannte Marken neuen Technologien gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Die Technologie der variablen Schriften gibt Marken ein flexibles typografisches Werkzeug für eine breite Palette von Medien an die Hand. Für einen TV-Sender oder Streaming-Dienst hieße das etwa, dass Untertitel automatisch auf die Hintergrundfarbe reagieren und sich Strichstärken entsprechend ändern, so dass die visuelle Konsistenz und Lesequalität hoch bleibt – egal was im Hintergrund passiert. Variable Schriftarten können so programmiert werden, dass die Typografie dynamisch gestaltet ist. Das verleiht ihnen eine völlig neue, aber nützliche Qualität im digitalen Textdesign, die bei (statischen) Drucksachen wenig Sinn gemacht hätte. Die Möglichkeiten sind unerschöpflich, denn variable Schriften sind adressierbar, d.h. sie können in Echtzeit während ihrer Verwendung kontrolliert werden. Sie reagieren etwa auf Live-Daten (z.B. Heatmaps), auf die Kamera- oder Leseentfernung, auf die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs oder auf Gesten. Die Bandbreite reicht von der reinen Kompensation, die dem Leser eine konstante Lesbarkeit garantiert, bis hin zu eher exzentrischen Typografien, bei denen die Buchstaben deutlich auf Lautstärke, Intonation, Bässe, Höhen oder Beats reagieren.

 

Variable Fonts bieten Entwicklern und Designern dynamische Möglichkeiten

Gegenwärtig erleben wir die Geburt intelligenter, adaptiver Branding-Systeme, bei denen die Schrift an erster Stelle steht und damit praktisch die Hauptrolle spielt. Jetzt ist also der genau richtige Zeitpunkt, sich mit variablen Schriften zu befassen und Antworten auf ein paar wichtige Fragen zu entwickeln: Wie schnell schneiden variable Schriften auf Webseiten ab? Wie weit können die Achsen einer variablen Schriftgestaltung gehen, bis sich das Erscheinungsbild von der visuellen Identität der Marke abhebt? Steigern variable Schriften die Markentreue oder gefährden sie die Corporate Identity? Sollten sehr bekannte Marken ein Schriftenexperiment wagen, oder besser nicht?

Entwickler und Designer zögern noch immer, variable Fonts anzuwenden. Aber langsam macht sich ein Wandel bemerkbar: Immer neue Ideen für Projekte entstehen, die dynamisch denken und sich von den Beschränkungen statischer Schriften lösen wollen. Die Nachfrage nach reaktionsschnellen, anpassungsfähigen Schriften wächst und konkrete Fragen zu variablen Fonts erreichen die Kreativszene. Das ist eine gute Nachricht, denn mit dem Einsatz variabler Schriften erleben visuelle Markenerlebnisse eine neue Ebene: Durch Kreativität und eine bisher unerreichte Funktionalität der Buchstaben.

Phil Garnham ist Creative Type Director und Schriftdesigner mit langjähriger Erfahrung in Design und Technik von Schriften für globale Marken. Bevor er zu Monotype kam, leitete er Schriftgestaltungsprojekte bei Fontsmith.

 

Darüber hinaus hätten wir noch einen kleinen Fun-Beitrag:
Das Gesicht des Monotype Studio-Schriftentwerfers Friedrich Althausen, der einen Font gebaut hat und verschenkt (über Github). Der Font hat die Achsen: Gesichtsmasketragen (macht abstehende Ohren), geschlossene Friseure (macht langes Haar und Bart) und Home-Schooling (macht müde Augen).