Jürgen Siebert ist jemand, den man eigentlich nicht vorzustellen braucht. Bekannt aus unzähligen Event-Moderationen, als Macher und Denker bei FontShop, Monotype und vielem mehr sollte er jedem in unserer Designszene ein Begriff sein. Er hat in seiner Karriere bisher schon viel erlebt und vor allem auch einfach gemacht. Nun hat er sein Engagement bei Monotype beendet. Daher nutzen wir gerne die Gelegenheit, um mit ihm einen Blick zurück zu werfen. Jürgen Siebert hat sich die Zeit genommen, um mit unserem DESIGNBOTE Redakteur Julien Fincker über seine Vergangenheit, seine Highlights und auch seine Zukunft zu sprechen.

Lieber Jürgen, Ende Mai endete Deine Arbeit als Marketing Director bei Monotype. Du blickst auf eine sehr bewegte und ereignisreiche Zeit bei Monotype und FontShop zurück. Was wirst Du am meisten vermissen?

Den Austausch mit vielen begabten und kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Gerade vor dem Hintergrund der Coronakrise und der daraus resultierenden Home-Office-Situation sollten wir uns daran erinnern: kongeniale Ideen reifen im Team, das sich an einem Tisch austauscht – nicht in Zoom-Konferenzen. Diese eignen sich prima fürs Verwalten, aber nicht für einen schöpferischen Prozess.

Es gibt bestimmt viele Highlight und Personen an die Du Dich gerne erinnerst. Möchtest Du uns von Deinen wichtigsten erzählen?

Ich versuche mal drei exemplarische Personen und ihre Katalysator-Funktion in den zurückliegenden drei Jahrzehnten näher zu beleuchten. Für mich war Mitte der 1990er Jahre die Zusammenarbeit mit der FontShop-Inhaberin und -Managerin Joan Spiekermann enorm fruchtbar. Ihr Vorteil waren Lebens- und Berufserfahrungen in kulturellen Projekten, beim Film oder beim Betreiben eines Cafés, die sie in den Alltag unserer Arbeit einbrachte. Sie war keine Schreibtischtäterin, die ein Business nach akademischen Rezepten entwickelte, sondern sie trieb es mit Intuition an. Nur so war es möglich, dass wir als FontShop wegweisende Nebenprojekte erfolgreich durchführen konnten, von der Designmarke ShopShop, über die TYPO-Konferenz bis hin zur ersten Website und mobilen Apps.

jürgen siebert

“Ich habe unglaublich gerne mit ihnen zusammengearbeitet“: Joan und Erik Spiekermann, die Gründer und Eigentümer von FontShop 1990 (Foto: Hans Werner Holzwarth)

Genauso wichtig und erfüllend war die Zusammenarbeit mit Joans damaligen Ehemann. Erik Spiekermann hat ein unglaubliches Gespür für Talente. Es war die Voraussetzung dafür, ein Team aus 20 Quereinsteigern aufzubauen, die sich binnen weniger Monate zu Experten entwickelten und FontShop über 20 Jahre erfolgreich machten. Joan und Erik beachteten dabei stets, dass man alle Talente an der langen Leine führen muss … was sich am besten durch Selbstverantwortung steuern lässt –ein sich selbst steuernder Regelkreis, der in eine Erfolgsspirale mündete, von 1992 bis 2014.

Eine weitere Person, die ich noch erwähnen möchte, ist Petra Weitz – maßgeblich in den ersten FontShop-Jahren aktiv, und bis 2014 bei FSI FontShop International. Auch sie hatte ein Gespür für Talente, für Emotionen und neue Ideen … aber ohne das Business aus den Augen zu verlieren. Eine wunderbare Mischung. Ich habe gerne mit ihr zusammengearbeitet.

Ein weiteres Highlight war sicherlich auch das FontFont-Typeboard, das rund 27 Jahre existierte und an dem Du mit Erik Spiekermann jedes Mal teilgenommen hast. Was machte es für Dich so besonders und was blieb Dir besonders in Erinnerung?

Vielleicht fange ich mal chronologisch an. Das FontFont-Typeboard startete Ende 1991, als Hüter der künstlerischen Qualität unserer eigenen Schriftbibliothek. Das Typeboard ist vergleichbar mit der Abteilung A&R (Artists and Repertoire) bei einer Plattenfirma. Während dort die Demotapes von sich bewerbenden Künstlern gesichtet werden, haben wir die Schriftentwürfe junger Typedesigner unter die Lupe genommen. Das Typeboard spürte neue Talente und Schrifttrends auf, die zur DNA der FontFont-Library passten und kommerziell verwertbar waren. Wir trafen die Entscheidung darüber, Designer unter Vertrag zu nehmen und sie zu betreuen. Das Gremium gab dem FontFont-Label sein Profil. Und um noch mal auf die erste Antwort zurückzukommen: Das Typeboard konnte die Qualität seiner Entscheidungen nur halten, weil es sich persönlich zur Diskussion traf. Ein virtuelles Treffen kam für mich nie in Frage.

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„Was A&R für eine Plattenfirma war das TypeBoard für FontFont“: Das FF-Typeboard 1994, links nach rechts Jürgen Siebert, Neville Brody, Beth Russell, Erik Van Blokland und Erik Spiekermann (Foto: Jons M. Voss)

Auch bei unserer Jury spielte die Personalpolitik eine maßgebliche Rolle. Die Gründungsmitglieder des Typeboards waren Erik Spiekermann, Neville Brody, Erik van Blokland, Beth Russel, Joan Spiekermann und ich. Dabei brachte jedes Typeboard-Mitglied eine spezielle Superkraft ein. Erik Spiekermann verstand sich sowohl als Nutzer, als auch als Entwerfer von Schriften, mit profunden Kenntnissen über die Geschichte des Type-Design. Neville Brody war der Avantgardist, steuerte seinen nihilistischen Humor mit bei und kannte sehr genau den Unterschied zwischen einem rebellischen Schriftentwurf und einem platten, durchschaubaren Manöver. Erik van Blokland vertrat die holländische Tradition des Type-Designs, hatte wegen seiner Arbeit an der Hochschule einen vorzüglichen Draht zu den jungen Talenten und war durch seine eigene Arbeit als Letterror (gemeinsam mit Just van Rossum) stets geerdet: Er hob nie ab! Beth Russel – später Ugla Markowa und Petra Weitz – hielten die Fäden der Kommunikation zwischen Foundry und den Designern zusammen. Sie kannten die Stärken und die Empfindlichkeiten der Type-Designer und lotsten alle Projekte stets sicher durch den Ozean der Kommunikation, bei teils kräftigem Wellengang.

Meine Aufgabe im Typeboard war es, das Hit-Potenzial neuer Schriften zu werten, sowie die Geschichten hinter den Schriften herauszuarbeiten und fürs Marketing aufzubereiten. Joan Spiekermann sorgte über 20 Jahre dafür, dass die kulturelle Mischung am TypeBoard-Konferenztisch gewahrt blieb. Als Neville Brody ausstieg, verpflichtete sie zunächst Malcolm Garret und später David Crow, um die britische Perspektive auf die eingereichten Neuentwürfe nicht zu verlieren. Später stießen Stephen Coles (USA) und Jonathan Barnbrook (UK) zum TypeBoard.

Ich bin sehr stolz darauf, diesem wichtigen Gremium fast 30 Jahre angehört zu haben. Ohne das Typeboard hätte es neuzeitliche Klassiker wie FF Scala, FF DIN, FF Quadraat, FF Blur, FF Trixie, FF Dax, FF Netto, FF Milo, FF Clan, FF Mark, FF Real vielleicht nicht gegeben, oder in anderer Form, oder weniger erfolgreich, glaube ich.

Der Vorläufer des FontBook: der FontShop Katalog von 1991

Um zeitlich nochmal einen Schritt zurück zu machen. Wie bist Du eigentlich zum FontShop gekommen? Was hast Du davor gemacht?

Vor FontShop gab es nur eine Berufsstation, nämlich PAGE. Nach meinem Studium in Frankfurt bin ich 1986 nach Hamburg gekommen, um dort die Zeitschrift mitzugründen und aufzubauen. Im Herbst kam die erste Ausgabe von PAGE heraus, das »Magazin fürs Publizieren am Personal Computer«. Das Desktop Publishing war eine völlig neue Anwendung zu dieser Zeit und revolutionierte die Druckvorstufe. Als Chefredakteur entwickelte ich PAGE von der vierteljährlichen zur zweimonatlichen und am 1989 zur monatlichen Zeitschrift. Bei meiner Arbeit fand ich schnell Kontakt zur grafischen Industrie, einschließlich der Berliner Typografie-Szene rund um Erik Spiekermann. Der rief mich dann im Winter 1990 an, um mich zum frisch gegründeten FontShop nach Berlin zu locken. Dort landete ich dann im April 1991, wobei ich aber PAGE noch 12 Monate als Mitherausgeber verbunden blieb.

jürgen siebert

Portraits: Norman Posselt

Deine Rolle bei den TYPO Konferenzen war bekanntlich eine sehr Tragende. Nicht nur in vorderster Front bei der Moderation, sondern auch hinter den Kulissen warst Du an der Organisation stark beteiligt. Die Konferenzen, ob nun TYPO Berlin, TYPO Labs, Brand Talks usw erreichten schnell eine hohe Beliebtheit und avancierten zu DEM Hotspot der Typographie- und Design-Events, auch international. Wie hast Du für Dich die ersten Konferenzen, und auch die Entwicklung bis heute, wahrgenommen? Was machte sie so besonders?

Hier muss ich zunächst mal voranstellen: Alle diese Konferenzen waren das Ergebnis von Teamwork – eine fünfköpfige Mannschaft, die jedes Event mit großer Eigenverantwortung zu unvergesslichen Erlebnissen machte. Unser Ziel war von Anfang an, keine Fachkonferenz zu entwickeln – davon gibt es schon ausreichend viele –, sondern eine generalistische Designkonferenz zu veranstalten. Der Blick über den Tellerrand war unser Maßstab beim Einladen der Sprecherinnen und Sprecher, was sich dann auch auf die Zuschauer abfärben sollte. Unser Ziel war immer, dass jeder Besucher nach drei Tagen TYPO mit einem erweiterten Horizont an seinen oder ihren Schreibtisch zurückkehrte.

Das Berliner Event profitierte natürlich auch von der Location, dem Haus der Kulturen der Welt, das wir von 1996 bis 2018 bespielen durften. Das war eine große Ehre für uns. Als wir dann später TYPO San Francisco entwickelten, die TYPO Labs und die Brand Talks war der Zauber des Ortes stets eine wichtige Grundvoraussetzung: ein Konferenzhotel kam für uns nie in Frage.

Dass wir so lange das Haus der Kulturen nutzen durften, lag zu gleichen Teilen auch am sympathischen Publikum. Die Verantwortlichen der Kongresshalle mochten die Atmosphäre und die Menschen rund um die TYPO sehr. Und irgendwie beeinflusste sich das alles gegenseitig: Programm, Publikum, Ort.

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Das letzte gedruckte FontBook von 2006: 2000 Seiten und 3 Kilo schwer

Vor Kurzem habe ich eines der letzten verfügbaren Exemplare des FontBooks (2006) ergattern können. Ein in vielerlei Hinsicht richtig „dickes Ding“ – allein das Inhaltsverzeichnis umfasst über 50 Seiten. Die Konzeption stellte Euch sicher vor enorme Herausforderungen. Den Überblick zu behalten war sicher eine davon. Was möchtest Du uns zur Geschichte des FontBooks erzählen?

Ich habe schon länger nicht mehr über das FontBook nachgedacht … aber aus heutiger Sicht würde ich sagen: Selbst die Ausgabe von 2006 ist immer noch das umfangreichste Kompendium von Originalschriften – und wird es wohl bleiben –, weil es bis heute niemandem anderes gelang, diese Tradition fortzusetzen bzw. aktuell zu halten, weder gedruckt, noch digital.

Immerhin haben wir es im Sommer 2011 noch geschafft, das FontBook als iPad-App herauszubringen, zwei Jahre später dann auch für das iPhone. Auf dieses Projekt bin ich ebenfalls sehr stolz. Nicht, weil wir dafür den Red-Dot-Designpreis gewonnen haben, sondern weil es uns gelang, das lineare gedruckte Buch in einen interaktiven Atlas mit einer Art Landkarten-Konzeption zu transformieren.

Die serielle, alphabetische Anordnung der Schriften ist ja nur eine von vielen Möglichkeiten, ein Nachschlagewerk zu komponieren – vor allem geeignet für Experten, weniger für Quereinsteiger, von denen es in der Schriftwelt immer mehr gibt. Daher wurde die FontBook-App, mit vielfältigen Einstiegen, Stil-Kapiteln, Direct-Link-Verweisen und einer übergeordneten Suche das praktischste Tool für die typografische Inspiration und das Vergleichen von Schriften.

jürgen siebert

Erschienen im Sommer 2011: Das FontBook als interaktive iPad-App

Wir hoffen, dass Du nicht komplett von der Bildfläche verschwindest, und können uns das ehrlich gesagt auch nicht wirklich vorstellen. In welcher Form wirst Du uns denn erhalten bleiben? Was sind Deine Pläne für die Zukunft? 

Ich werde auf selbständiger Basis weiter aktiv bleiben, als Design-Berater, Projektleiter, Autor, Blogger, Stratege und Texter. In Sachen Events werde ich die CreativeMornings Berlin weiterhin durchführen. Journalistisch stehe ich seit über 30 Jahren bei PAGE unter Vertrag. Wie man sieht … zwei Marathon-Aktivitäten. Darum sehne ich mich gerade sehr nach einem Sprint.

Lieber Jürgen, wir danken Dir für Deine Zeit und wünschen Dir weiterhin viel Freude, viel Erfolg und vor allem eine gute Ausdauer. Denn wir sind uns sicher, dass es Dir nicht an Sprints mangeln wird.

Weitere Informationen zu Jürgen Siebert findet man auf seinem persönlichen Blog:

https://www.fontblog.de/

Fotos Portraits: Norman Posselt