Henk Schiffmacher “The Tattoo Book” – Mehr als 20% der Deutschen sind tätowiert. Und vielleicht seid Ihr ja auch Zielgruppe. Bei Taschen ist, pünktlich vor Weihnachten, ein ausgesprochen umfangreiches und bilderpralles Buch zum populären Körperschmuck erschienen, ein Foliant, der sich mit über fünf Kilo und über vierhundert Seiten schon beim Auspacken als Schwergewicht erweist.

henk schiffmacher

The cover features rare vintage tattoos from Henk Schiffmacher’s collection

Sein Autor Henk ‘Hanky Panky’ Schiffmacher (*1952, Harderwijk), eine weltweit anerkannte Kapazität auf dem Feld der Körperdekoration, hat dem TASCHEN-Verlag für dieses ambitionierte Vorhaben Zugang zu den Schätzen seiner Privatsammlung gewährt. Die luxuriös golden hinterlegte Seite 3 trägt ein Zertifikat mit der Nummer des jeweiligen Exemplars der auf 10.000 Stück limitierten, außerordentlich opulent bebilderten, dreisprachigen Ausgabe.

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel mit biografischen Fakten des Tätowierkünstlers, gefolgt von fünf weiteren, in denen die Tätowierkunst und Stile der verschiedenen Epochen vom frühen 18. Jahrhundert bis in die Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts behandelt werden. Zwei biografische Seiten schließen das Werk ab.

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Portrait of a Māori woman with chin moko and feather from the prized huia bird, ca. 1900s. Māori women were traditionally tattooed on their chins and lips. Courtesy of the Schiffmacher Tattoo Heritage

Flash Back

Henk Schiffmacher erzählt von seiner Kindheit als Metzgerssohn, in der er schon ‘wie eine Elster’ Feuersteinpfeilspitzen, Tierskelette und Vogeleier gesammelt hatte, die er in seinem eigenen ‘Museum’ ausstellte. Auch die alte Seemannskiste seines Vaters, der in Indonesien gedient hatte, plünderte er. Mit seiner ersten eigenen Kamera porträtierte er die armen Bauern in ihren traditionellen Trachten. Dem schweigsamen Vater und seinen fünf Onkeln entlockte er sein reiches Geschichtswissen und belauschte heimlich deren Gespräche von überstandenen Abenteuern.

Als katholisches, mit der Ikonografie der Kirche vertrauter Messdiener entwickelte der junge Henk ein Leben in Bildern. Die katholische Bilderwelt mit Kreuzigung, Stigmata, Märtyrern und später dem Werk von Hieronymus Bosch faszinierte ihn. Das einzige Buch im elterlichen Haushalt war La Grande Bible de Tours von Gustave Doré mit ihren Illustrationen. Erst mit 12 konnte Henk endlich flüssig lesen. Weil das knappe Papier, das die Nonnen in der Schule rausrückten, bis in die letzten Ecken gefüllt werden musste, nahm seine Kunst eine derart barocke Note an, dass die Priester bei ihm Illustrationen orderten. Der schwierige Pubertierende flog von der Schule und konnte mit dem holländischen Wahlspruch “Doe maar normaal, dan doe je al gek genoeg.”* wenig anfangen und wählte das Leben eines Unangepassten. Zu den vielen Outlaws, die er unter der Nadel hatte, zählen Willy DeVille, Lemmy von Motörhead, Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers, die Ramones u.v.a. .

Tribal Tattoos

Henk fühlt sich schon früh in dieser ethnisch geprägten Stilwelt zuhause. Speziell die (Gesichts-)Tätowierungen der Maori in Neuseeland faszinieren ihn. Das unter den britischen Eroberern lange verbotene Tätowieren erlebte dort in den 70ern eine Renaissance. Als Henk Schiffmacher in den 90ern hörte, dass diese alte Kunst wieder praktiziert wurde, reiste er nach Neuseeland um die Maorikultur zu studieren, die seit den Tagen von des britischen Entdeckers James Cook in Europa vorwiegend als freakige Exotica präsentiert worden war. Damals taten Missionare alles um den Maori, wie auch vielen anderen ozeanischen, asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Völkern, ihre Kulturen zu rauben, um sie für das Christentum zugänglich zu machen. Schiffmacher stellt diese Tattoo-Kulturen, ihre Stilwelten und -codes ausführlich vor.

Als Ausnahme kommen Tätowierungen auch im Christentum vor. Sie dokumentierten oftmals Pilgerreisen und markierten auf dem Balkan die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben. So wollte man verhindern, dass z.B. junge Frauen zum Islam konvertierten.

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Hand-colored photograph of a tattooed messenger, by Italian-British photographer Felice “Felix” Beato, ca. 1864−1867. One of the first war photographers and photojournalists, Beato took incredible photographs of Edo Japan. Courtesy of the Schiffmacher Tattoo Heritage

Die Alte Kunst aus Japan

Im Reich der Sonne sollte der Holzschnitzer Utagawa Kuniyjoschi im frühen 19. Jahrhundert für einen wahren Tattoo-Boom sorgen. Er hatte in den Holzschnitten für einem chinesischen Räuberroman die Tätowierungen der Helden derart effektvoll in Szene gesetzt, dass großflächiger, farbenfroher Körperschmuck im Stile der illustrierten Ganoven ganz groß in Mode kam. Viele ‘Ukyo-eh’-Holzdruckkünstler zweckentfremdeten ihre Werkzeuge als Tätowiergeräte und verzierten fortan die Körper ihrer Kundschaft mit literarisch inspirierten, filigran gestochenen Drachen, Geistern und Blütenmotiven. Diese Motive fanden ihren Weg ins traditionelle Kabuki-Theater, auf die Körper breiter Bevölkerungsschichten vom Händler bis zur Geisha und ab dem späten 19. Jahrhundert sogar von betuchten europäischen Reisenden. Zwischenzeitlich verboten, ist die Bilderwelt der traditionellen japanischen Tätowierkunst ‘Irezumi’ bis heute von Kuniyoshis Holzschnitten und den Motiven des Irezumi-Malers Osen geprägt und ziert von Gangstern (die bisweilen auch zur Strafe tätowiert wurden) über den Adel bis zum Büropersonal alle Gesellschaftsschichten. Bizarres Detail: Es war damals durchaus üblich, seine tätowierte Haut wissenschaftlichen Sammlungen zu stiften.

Henk schildert ausführlich, wie seine Bekanntschaft mit der japanischen Tätowierkunst zustande kam und wie sie die europäische Tätowierung – auf einem Umweg über US-Tattoo-Pioniere – technisch wie auch künstlerisch inspirieren sollte. Ikonografie, Motivik und Chiffren werden in Fotografien, Musterbögen und Illustrationen ausführlich farbig dargestellt.

Ein Zeitalter des Exhibitionismus

Ein gewisser Captain Costentenus trat ab 1876 in einer reisenden Freakshow des Zirkuspioniers P.T. Barnum auf und sorgte für entsetztes Erstaunen. Er war von Kopf bis Fuß tätowiert, angeblich von Mongolen, wahrscheinlicher aber von einem burmesischen Künstler. Allmählich tauchten auch tätowierte Frauen als Attraktionen auf, was besonders publikumswirksam war, weil sie naturgemäß mehr Haut zeigten als es in diesen prüden Zeiten üblich und schicklich war. Immer mehr fanden mit ihrem Hautschmuck ein Auskommen auf dem Rummel oder in reisenden Freakshows, Varietés und Zirkussen. Manche von ihnen machten ihr ‘Hobby’ zum Beruf. Der New Yorker Tätowierer Charles Wagner (1875 bis 1953) hat Dutzende dieser lebenden Attraktionen dekoriert. Die aufkommende Fotografie sorgte für schnelle Verbreitung der visuellen Skills und ihrer Thrills. Das Buch zeigt reihenweise Werbefotos der damals angesagten Künstler. 1891 ließ sich erst Samuel O’Reilly (1854 – 1909), dann 1894 ein Brite eine Tätowiermaschine patentieren. Wagner erfand 1940 den Prototyp der modernen Maschinen (patentiert 1904) und versorgte mit seinem Versandhandel für Vorlagen, Tinte und Gerätschaften eine stetig wachsende Schar von Kunsthandwerkern, die ihre Kunst klassenübergreifend ausübten. Der Autor präsentiert auf vielen Seiten Typen, Milieus, Stilgenres und Motive dieses ‘Michelangelo of Tattoo’ aus der New Yorker Bowery in Fotografien und Musterbögen.

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Famous American tattooed woman Artoria Gibbons, ca. 1920s. Gibbons was one of the longest-performing tattooed ladies ever. She worked the circus sideshows, dime museums, and carnivals until 1981. Courtesy of the Schiffmacher Tattoo Heritage

Zum Kämpfen geboren

Die Tätowierungen der Seeleute ähneln in ihrer Intention jener der Pilger, denn auch sie halten denkwürdige Orte und Ereignisse im Leben ihrer Träger in Bildern fest. Laut Schiffmacher hatten schon die polynesischen Tattoos von Kapitän Cooks Mannschaften von den erlebten Abenteuern erzählt. Tätowierstudios fanden sich in fast allen Häfen und in der Nähe von Militärstützpunkten. Der Landgang wurde für Besuche in Puffs und Tätowierbuden genutzt. Die US-Marine sah indes die unter unhygienischen Bedingungen entstandenen, gerne auch freizügigen Motive auf den haarigen Brüsten ihrer Matrosen nicht gern und ließ sie oft mit Bikinis übertätowieren. Für Henk kommt eine Tätowierung einer Impfung gleich, weil sie beim Verheilen die geheimnisvolle Kraft des ‘Mana’ erschließt. Für ihn birgt jedes Tattoo eine starke emotionale Ladung, eine Erinnerung an überstandene Abenteuer oder Lebenskrisen. Das Handwerk selbst war ein streng gehütetes Geheimwissen, nicht nur über Technik und Motivik, auch was die Gerätschaften anging. Man blieb unter sich, war verschwiegen, enthielt sich aufdringlicher Werbung und ließ nur seine Arbeiten für sich sprechen. Auch hier spart Henk Schiffmacher nicht mit Bildern von Schauplätzen, Illustrationen, ‘Flash Sheets’ und Fotografien.

Tommy Stephens with tattoos by the legendary American tattoo artist Bert Grimm, ca. 1940s. Grimm was a master and a huge influence on Western tattooing. Courtesy of the Schiffmacher Tattoo Heritage

Das gute Leben

Das letzte Kapitel widmet sich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Tätowierung einen Boom erlebte und u.a. via Illustrierte, Magazine, Film und Fernsehen allmählich alle Bevölkerungsschichten erreichte. Trotzdem gab es Rückschläge, als 1961 in New York, 1967 in Milwaukee und auch anderswo in den USA das Tätowieren verboten wurde. Ein gewisser ‘Sailor Jerry’ in Honolulu arbeitete als einer der ersten mit sterilisierten Nadeln und prägte die Szene mit seinen Erfindungen.

Die Bäckereiverkäuferin, der Bankangestellte, die Rechtsanwältin und der Lehrer, sie alle können sichtbar oder unsichtbar tätowiert sein. Equipment und Materialien sind leicht verfügbar, Studios allenthalben auch auf dem platten Land zu finden. Auf den folgenden Seiten zeigt Schiffmacher die Entwicklung der modernen Ikonografie, markante Typen und jede Menge Seiten aus Musterbüchern.

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Portrait of world-renowned tattoo artist and collector Henk Schiffmacher ©Rudi Huisman

Biografie

Diese englischsprachigen Seiten widmen sich der Biografie von Hendrikus Johannes Everhardus “Henk” Schiffmacher, a.k.a. ‘Hanky Panky’. Der Ausstellungskurator, Buchautor und Moderator von Fernsehsendungen zum Thema Tattoo zählte zu seinen Kunden Mitglieder von Red Hot Chili Peppers und Pearl Jam, Nirvana-Frontmann Kurt Cobain und Motörhead-Frontmann Lemmy Kilmister, Willy DeVille, Nina Hagen, The Ramones und viele andere.

Schiffmacher hat in den 1970ern an der ‘Reclame School REX’ in Amsterdam studiert, unter anderem für die Illustrierte ‘Nieuwe Revu’ fotografiert und die ganze Welt bereist.

Henk Schiffmacher ist Autor von ‘Tattoos’ (2001) und ‘1000 Tattoos’ (2005), die auch beide bei TASCHEN erschienen sind.

Fazit:

Wer jetzt noch ein Weihnachtsgeschenk sucht, das richtig Eindruck macht, der/ die sollte bei diesem Wälzer zuschlagen. Aber auch als Inspiration für neue Tätowierungen ist das schwergewichtige Werk auch zukünftig wertvoll. 

Am besten direkt online bestellen:

www.taschen.com

TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher’s Private Collection.
Nummerierte Erstauflage von 10.000 Exemplaren

Henk SchiffmacherNoel Daniel
Hardcover, 29 x 38,8 cm, 5,56 kg, 440 Seiten, 125 Euro

*Etwa: “Verhalt dich normal, dann bist Du schon bekloppt genug.”

Headerbild: An album of original tattoo designs byunidentified British tattoo artist, ca. 1918–20s. Given the dress code back then, the private part of your body was much bigger than it is now. And inside this large private zone, they would put very private tattoos like these.