Anna-Maria Wittmann und Daniela Schmitz

Am anderen Ende der Welt scheint gerade die Sonne vom blauen Himmel. Palmen wiegen sich neben der Terrasse im Wind. Wer mit Anna-Maria Wittmann und Daniela Schmitz morgens um 9 Uhr deutscher Zeit skypt, „trifft“ zwei gut gelaunte junge Frauen in ihrer Mittagspause in der kambodschanischen Stadt Siem Reap. Hier bauen die angehenden Modedesignerinnen seit einem Jahr das Modelabel „Off Track Accessories“ auf. Wittmann und Schmitz bringen jungen Frauen bei, wie sie aus gebrauchten Reifen und Schläuchen von Fahrrädern, Mopeds und Autos modische Taschen, Rucksäcke und Portmonees fertigen und auch erfolgreich vermarkten können. Bei Touristen werden diese Kreationen immer beliebter. Mittlerweile sind die veganen Produkte in sieben Läden zu haben. Die Einnahmen gehen an ein eine lokale Hilfsorganisation, die Kindern Schulbildung und jungen Erwachsenen eine Berufsausbildung ermöglicht. Bildung ist eine knappe Ressource in dem Entwicklungsland, dessen 16 Millionen Bewohner_innen durchschnittlich 22 Jahre alt sind.  Ein wichtiger Beweggrund für die beiden jungen Frauen ihr Wissen nach Kambodscha zu tragen.

Wie kommt es, dass Sie statt in der Modemetropole Berlin in Kambodscha ein Mode-Label betreiben?

Beide: Wir sind 2016 durch eine Stellenausschreibung an der HTW Berlin auf dieses Projekt aufmerksam geworden. Die NGO Khmer for Khmer Organisation (KKO) suchte Studierende oder Absolvent_innen des Studiengangs Modedesign, die bereit sind, das Start-Up-Label  OFF TRACK Accessories verantwortlich zu leiten. Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung  war KKO sehr wichtig – und uns auch.

Daniela: Bereits während meines Masterstudiums fand ich Projekte spannend, die sich mit Nachhaltigkeit in der Modeindustrie und Upcycling beschäftigen. Wir haben zum Beispiel alte Militärkleidung zu einer neuen Modekollektion umgewandelt. Mit dem Phänomen, dass sich nachhaltige Produkte auf dem internationalen Markt wachsender Beliebtheit erfreuen, habe ich mich dann auch in meiner Masterarbeit beschäftigt.  Als ich dann vom Weltwärts-Programm des Bundesentwicklungsministeriums erfahren habe, in dem es darum geht, nachhaltige Mode zu schaffen, wollte ich das unbedingt unterstützen.

Wir wurden Sie auf das südostasiatische Land und Ihre Aufgabe vorbereitet?

In Vorbereitungskursen haben wir viel über das Land und seine Kultur gelernt. Als wir hier in dieser ländlichen  Gegend von Siem Reap ankamen, haben wir schnell gemerkt, wie groß die Unterschiede sind. Hier ist einfach alles anders. Schulbildung ist hier keine Selbstverständlichkeit. Kaum jemand spricht englisch oder benutzt Computer. Aber der Start wurde uns leicht gemacht, wir werden hervorragend von der NGO KKO betreut.

Wie erleben Sie das Land und seine Bewohner_innen, seine Natur und die Wirtschaft?

Kambodscha ist ein Land der Gegensätze. Atemberaubende Landschaften, freundliche Menschen und Angkor, die einzigartige Tempelanlage des historischen Khmer-Reiches . Wer nach Kambodscha reist, kann sich den wundervollen Reizen dieses kleinen Landes unmöglich entziehen.

Die Schreckensherrschaft der Roten Khmer in den 70er Jahren hat das Land allerdings um Jahrzehnte zurückgeworfen. Kambodscha, einst die „Schweiz Südostasiens“ leidet an den Folgen des Terrors: Hohe Arbeitslosigkeit, mangelnde medizinische Versorgung, verunreinigtes Trinkwasser und schlechter bis kein Zugang zu Bildung. Mehr als ein Drittel der kambodschanischen Bevölkerung verdient gerade einmal zwei Dollar pro Tag. Trotz dieser Vergangenheit sind die Menschen sehr freundlich und freuen sich über unsere Versuche, die Landessprache Khmer zu sprechen.

Ein Modelabel aufbauen – wie geht das in einem Entwicklungsland wie Kambodscha?

Es gab bereits  es ein kleines Atelier im Zentrum von Siem Reap, in dem handgemachte Touristenprodukte aus recycelten Materialen produziert und verkauft wurden. Die Produktpalette war klein, die Designs und erst recht das Marketing stark verbesserungsfähig.

Mit unserer Ausbildung im Rücken wollten wir neue Produkte in schönen Designs entwickeln, damit das Label höhere Gewinne erwirtschaften kann als bisher. Denn je mehr Touristen die Off Track-Produkte kaufen, umso mehr feste Arbeitsplätze kann KKO für die Schneiderinnen schaffen, die die Initiative ausbildet.

In einem fremden Land zu arbeiten, ist sicher herausfordernd. Wer unterstützt Sie vor Ort?

Wir arbeiten eng  mit den Gründern der NGO Khmer for Khmer Organisation zusammen. Markus Tigges leitet die NGO von Deutschland aus, wir kommunizieren mit ihm via Skype. Die kambodschanische  Leiterin, Phary Mouen, unterstützt uns in jeglicher Hinsicht. Sie spricht fließend Englisch. Ihre Organisations- und Managementkenntnisse sind herausragend. Sie organisiert für uns die Behördengänge und kümmert sich um Mietverträge sowie Steuern und Versicherungen. Das vereinfacht vieles.

Wie können wir uns Ihre Arbeit konkret vorstellen?

Anna: Ich begleite jedes Produkt vom ersten Entwurf bis zur Produktionsfreigabe, leite und organisiere die Produktion, koordiniere die Fertigungsprozesse und bin neben weiteren administrativen Aufgaben für die Qualitätskontrolle und das Anlernen der kambodschanischen Mitarbeiter_innen zuständig. Mit ihnen verständige ich mich in einer Mischung aus Englisch, ein paar Brocken ihrer Landessprache Khmer oder mache an der Nähmaschine vor, was ich mir vorstelle.

Daniela: In meinen Aufgabenbereich fällt ebenfalls das Design der neuen Produkte. Darüber hinaus kümmere ich mich um zuverlässige Materiallieferanten, entwickele die Marketingstrategie und baue alle Social Media Kanäle sowie die Webseite mit dem Online-Shop auf.

Wie hat sich das Label Off Track Accessories im zurückliegenden Jahr verändert?

Off Track Accessories

Unser kleines Unternehmen wächst ganz beachtlich. Wir verkaufen unsere Produkte momentan in sieben verschiedenen Shops in Siem Reap und haben unseren eigenen Verkaufsraum seit April 2017 neu eröffnet. Unsere Kund_innen sind internationale Touristen, die sich für Nachhaltigkeit und soziale Fragen interessieren. Unsere Produktpalette hat sich enorm erweitert, wir konnten dem Label eine eigene Handschrift schenken. Online sind wir nun mit einem Produktkatalog auf der neuen Website vertreten und man kann unsere Arbeit auf Facebook OFF TRACK Accessories und Instagram offtrack_accessories verfolgen.

Wer sind Ihre Mitarbeiter_innen?  Können sie von ihrem Verdienst leben?

Wir beschäftigen zurzeit sechs Näherinnen, die in liebevoller Handarbeit unsere Stücke produzieren. Sie verdienen in etwa doppelt so viel wie der durchschnittliche Kambodschaner. Der Verdienst sichert ihren Lebensunterhalt und sie können sich sporadisch Luxusgüter wie ein Handy oder eine Reise leisten. Von dem Gehalt können sie ihre Kinder zur Schule schicken und zudem ihre Eltern und Verwandten unterstützen. Unsere Mitarbeiterinnen haben bezahlten Urlaub sowie bezahlte Krankentage. Das ist in Kambodscha ansonsten leider nicht üblich.

Woher beziehen Sie die Reifen und Schläuche, aus denen die Off Track-Produkte gefertigt werden?

Die bekommen wir von lokalen Werkstätten. Sie heben die alten Schläuche für uns auf. Die Fahrradschläuche bekommen wir geschenkt, die alten LKW- und Roller-Schläuche müssen wir kaufen. Um die Qualität unserer Produkte zu sichern und neue zu entwickeln,  müssen wir immer wieder zuverlässige Lieferanten für Materialien und Stoffe in Bangkok ausfindig machen.

Im Moment werben Sie mit einer Crowdfunding-Kampagne um Unterstützer. Mit welchem Ziel?

Wir möchten das Label weiter ausbauen. Um das große Interesse auf dem deutschen Markt zu decken, haben wir eine Crowdfunding-Aktion auf Startnext gestartet.

Wenn wir es schaffen, unsere  Umsätze weiter zu steigern, kann KKO noch mehr Kambodschaner_innen Ausbildungswege und einen Job bieten kann. Alle Gewinne des Labels werden vollständig in das Projekt reinvestiert.

Warum möchten Sie, dass die Gewinne einem Bildungsprojekt von KKO zugute kommen?

KKO ist eine kambodschanische Nichtregierungsorganisation. Seit der Gründung 2009 erhalten Kinder und junge Erwachsene kostenfreien Unterricht sowie die Möglichkeit verschiedener beruflicher Ausbildungen. Bildung ist der erste Schritt, Menschen in die Lage zu versetzen, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen und somit zu mehr Wohlstand, Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein zu gelangen.

Für uns in Europa ist das ganz selbstverständlich…

Wir haben das deutsche Bildungssystem und die Demokratie hier noch einmal ganz anders schätzen gelernt. Bei uns kann jeder seine Meinung frei äußern und studieren. Das ist hier in Kambodscha stark eingeschränkt,  viele Themen darf man nicht ansprechen. Kaum jemand hat einen Computer, um sich über die Weltlage zu informieren. Ärztliche Hilfe gibt es nur gegen Vorkasse.

Was machen Sie in Siem Reaps, wenn Sie nicht arbeiten?

Daniela: Ich verbringe meine Abende mit Sport, Lesen und gutem Essen. Es gibt in Siem Reap viele gute Restaurants. Es macht Spaß, neue Küchen auszuprobieren. Die Vielfalt kambodschanischer Märkte ist atemberaubend. Da schlendere ich gern rüber und genieße die vielen neuen Eindrücke.

Anna-Maria: Um meine Gedanken in Leerlauf zu bringen, lerne ich bei einer Kambodschanerin töpfern oder genieße eine Massage. Wie Daniela gehe ich gerne über die lokalen Märkte, versuche mich daran kambodschanische Gerichte vegetarisch zu kochen oder lasse mich von den interessanten Stoff- und Farbkombinationen der traditionellen Gewänder inspirieren.

Wie geht es weiter mit Off Track Accessories, wenn Sie im September nach Berlin zurückkehren?
Drei Praktikanten werden die Produktion und Arbeit vor Ort verantworten. Wir werden das Label dann von Deutschland aus ehrenamtlich leiten.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?

Anna-Maria: Ab Oktober setze ich mein Modedesign-Studium  an der HTW Berlin fort. Dann werde ich mich sicher weiter mit der Frage beschäftigen, wie die Modeindustrie soziale Verantwortung übernimmt.

Beide: Wir möchten neue Märkte für unser Label erschließen und wünschen uns, dass ökologische, ethisch korrekte und modische Kleidung zur Selbstverständlichkeit wird. Mit unserem Label wollen wir Vorbild für andere sein. Denn wir sind uns sicher, dass man  Kleidung zu fairen Löhnen und unter menschenwürdigen  Arbeitsbedingungen herstellen kann.

 

Text: Anke Assig, Fotos: Anna-Maria Wittmann und Daniela Schmitz / KKO

HTW Berlin